Im Museum Industriekultur in Nürnberg beweist ein Maurer-Union Doktorwagen seine Steigfähigkeit.

Der Doktorwagen, der gerne Treppen stieg

Wir schreiben das Jahr 1906. Ein medizinischer Notfall im Nürnberger Apollo-Theater zwingt Heinrich Hildebrand zu einem waghalsigen Rettungseinsatz. Eine fiktive, aber auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte über eine steile Treppe, einen altersschwachen Doktor und seinen treuen Maurer-Union Motorwagen.

Ein Beitrag von Andreas Staubinger

Welcher unglückselige Narr hatte eigentlich die Treppe erfunden? Doktor Heinrich Hildebrandt wusste es nicht. Doch am liebsten wäre er in diesem Moment in die graue Urzeit zurückgereist und hätte diesem Erfinder eigenhändig den Hals umgedreht. Ein Mann mit schwarzem Frack und Zylinder kam auf den Doktor zugeeilt und riss ihn lautstark aus seinen Gedanken. „Herr Doktor, bitte kommen Sie schnell. Meine Frau liegt da oben.“ Sein Ton wurde noch hektischer. „Sie…sie ist einfach zusammengebrochen. Bitte, schnell!“, flehte er. Hildebrandt sah aus seinem Maurer-Union Doktorwagen zuerst den Mann an, der ihm wild gestikulierend den Weg weisen wollte. Dann fiel sein Blick auf eine reglos auf dem Boden liegende junge Frau, um die sich bereits eine große Menschentraube gebildet hatte. Wie gerne wäre er ihr sofort zur Hilfe geeilt, doch er konnte nicht. Denn zwischen ihm und der leblosen Frau türmten sich zahlreiche Stufen zu einer steilen Treppe auf. Hildebrandt rieb seine steifen, alten Beine. Er wusste: Zu Fuß würde er diese Treppe niemals bezwingen können. Schwer seufzend stützte er sich auf das Lenkrad seines Wagens. Das war wirklich ein Tag zum Vergessen.

Ein Notfall hatte an diesem Mittwoch, den 23. Oktober 1906, den nächsten gejagt. Todmüde war Hildebrandt abends ins Bett gefallen, nur um gegen elf Uhr nachts von einem jungen Burschen geweckt zu werden. „Verzeihen Sie bitte die Störung, Herr Doktor.“ Der Jüngling war schweißgebadet und rang nach Luft, als sei er kilometerweit gerannt. „Sie müssen bitte mit mir kommen. Es gibt einen Notfall im Apollo-Theater. Eine Frau ist leblos zusammengebrochen.“ „Das Apollo-Theater in der Nürnberger Pfannenschmiedsgasse?“, fragte Hildebrandt verschlafen und rieb sich die müden Augen. „Also gut, warte bei meinem Motorwagen auf mich“, brummte er. Mühsam kämpfte sich Hildebrandt aus seinem Nachtrock und streifte sich Kleider und Mantel über. Bei Gott, er wurde langsam zu alt für diese Arbeit. 72 Lenze zählte er bereits – seine Beine waren steif geworden und seine alte Kriegsverletzung schmerzte. Er griff seine Doktortasche und humpelte hinaus in die finstere und kühle Oktobernacht.

Ein Motorwagen als treuer Begleiter

Der Junge hatte das Scheunentor neben dem Haus schon aufgezogen und stand nun staunend vor einem zweisitzigen Motorfahrzeug der Maurer-Union. Das Fahrgestell war aus Holz und ebenso rot lackiert wie die Motorhaube aus Stahlblech und die elegant geschwungenen Radschutzblenden, unter denen sich schmale Räder mit roten Speichen drängten. Ein schwarzes klappbares Verdeck schützte die Insassen vor Regen und Schnee. „Doktorwagen“ nannte man diese schweren Maurer-Union-Zweisitzer umgangssprachlich, da sie sich bei der medizinischen Zunft solch großer Beliebtheit erfreuten. Hildebrandt lächelte. 4500 Mark hatte er dafür ausgegeben – ein kleines Vermögen zur damaligen Zeit. Doch der Wagen war sein ganzer Stolz und treuer Begleiter bei all seinen Einsätzen, seit er nicht mehr gut zu Fuß war. Mühsam bückte sich Hildebrandt nun, um mit der Handkurbel den Motor zu starten. Nach nur drei Umdrehungen erwachte der 6 PS-Einzylinder knatternd zum Leben. Hildebrandt ächzte, als er sich auf den schwarzen Fahrersitz aus Rindleder zog und dem Jungen hieß, sich neben ihn zu setzen.

Maurer-Union Doktorwagen mit Reibrad-Getriebe, Ansicht von unten

Bei den Fahrzeugen der Maurer-Union kam ein stufenloses Getriebe zum Einsatz, bei dem ein Reibrad (Mitte) senkrecht gegen das vom Motor angetriebene Schwungrad (rechts) drückte. Foto: Andreas Straubinger

Der Doktorwagen mit stufenlosem Reibrad-Getriebe

Die Fahrzeuge der Nürnberger Maurer-Union waren in vielerlei Hinsicht besonders. Sie besaßen nicht wie die meisten anderen Fabrikate ihrer Zeit ein wartungsintensives, schwergängiges und schwer zu bedienendes Zahnrad-Schaltgetriebe, sondern ein stufenloses Planscheibenreibrad-Getriebe. Es bestand aus einer großen Schwungscheibe, die über eine Kurbelwelle vom Motor angetrieben wurde. Gegen diese Scheibe drückte im rechten Winkel ein etwas kleineres, lederbezogenes Reibrad. Dieses Reibrad war auf einer Welle gelagert und trieb die Hinterräder über eine Kette an. Über ein Handrad an der Lenksäule konnte der Fahrer das Reibrad nun entlang der Welle verschieben. Je weiter das Reibrad in Richtung Peripherie der Schwungscheibe verschoben wurde, umso kleiner wurde die Übersetzung – das heißt umso schneller konnte der Wagen fahren. Verschob man das Reibrad dagegen in Richtung der Mitte der Scheibe, so wurde die Übersetzung größer und der Wagen damit langsamer und steigfähiger. Zum Rückwärtsfahren schob man das Reibrad einfach über den Mittelpunkt hinaus auf die gegenüberliegende Schwungscheibenhälfte.

Hildebrandt kurbelte das Reibrad nun in Richtung Mitte der Schwungscheibe und betätigte einen Hebel an der Lenksäule, um das Rad an die Scheibe zu pressen. Mit einem Hebel über dem Holzlenkrad gab er Gas. Ohne Ruckeln – und damit viel sanfter, als jedes Automobil mit Schaltgetriebe es damals je vermocht hätte – fuhr der Wagen der Maurer-Union an. Der Doktor lenkte ihn aus seiner Hofeinfahrt hinaus auf die Nürnberger Bahnhofstraße. Die wenigen Gaslampen erhellten nur unzureichend die gepflasterten Wege, und so schaltete Hildebrandt die zwei Kerzenlampen seines Maurer-Union Wagens ein.

Ein Querschnittmodell des Maurer-Union 6 PS-Einzylindermotors

Ein Querschnittmodell des Maurer-Union 6 PS-Einzylindermotors kann im Museum Industriekultur in Nürnberg bestaunt werden. Foto: Andreas Straubinger

Schnell wie ein Rennwagen durch das nächtliche Nürnberg

Hildebrandt trieb den Doktorwagen nun zur Eile an. Daher verschob er das Reibrad an die Peripherie des Schwungrades und drückte den Gashebel bis zum Anschlag nach unten. Das Benzin schoss nun ebenso durch die Leitungen wie das immer heißer werdende Kühlwasser. Gierig saugte der Zylinder das Benzin-Luft-Gemisch über das Saugventil in die Brennkammer, verdichtete es anschließend und stieß dabei die Zündkappe vom Zündstift. Der dadurch entstehende Zündfunke ließ die Kraftstoffmischung explodieren, schleuderte den Kolben wieder nach unten und trieb so die Antriebswelle an. Ganze 700 Umdrehungen pro Minute schaffte der 6 PS Einzylinder – eine deutlich höhere Drehzahl hätte die Ölschmierung der damaligen Zeit überfordert.

Mit über 40 Kilometer pro Stunde schoss der Doktorwagen der Maurer-Union nun schnell wie ein Rennwagen durch die nächtlichen Straßen Nürnbergs. Der junge Bursche hielt sich mit weit aufgerissenen Augen krampfhaft am Sitz fest. Hildebrandt wusste, dass die erlaubte Höchstgeschwindigkeit in Nürnberg bei nur 15 Kilometer pro Stunde lag – aber wen kümmerte das schon bei einem medizinischen Notfall? Hildebrandt hielt nun direkt auf die Lorenzkirche zu und drosselte das Gas etwas, um bei der Einfahrt in die Pfannenschmiedsgasse nicht wegen zu hoher Geschwindigkeit auf dem nassen Kopfsteinpflaster ins Schlingern zu geraten. Kurz darauf hielten sie schon vor einem Haus mit stilvoller Außenfassade, auf der in großen Lettern „Apollo-Theater“ zu lesen war.

Eine Treppe als unüberwindbares Hindernis

Die Eingangspforte war weit geöffnet und so fuhr Hildebrandt ohne lange zu überlegen direkt mit seinem Wagen in das Theater hinein. Verwundert hielt er inne – denn wider Erwarten befand er sich nun nicht im Foyer, sondern in einem Innenhof. Hildebrandt benötigte nur Sekundenbruchteile, um die Szenerie zu erfassen. Vor ihm befand sich eine steile Treppe. Eine bittere Vorahnung befiehl ihn: Die Frau würde doch nicht da oben liegen? Doch als er seinen Blick die Stufen hinaufgleiten ließ, wurde sein Verdacht zur Gewissheit. Auf dem obersten Treppenabsatz drängten sich zahlreiche Theaterbesucher um einen leblosen Körper. Ein junger Mann, vermutlich der Ehemann der Dame, war die Stufen hinuntergesprungen und redete nun hektisch auf Hildebrandt ein. Doch der Doktor nahm ihn kaum wahr, er konnte nur noch auf diese verfluchte Treppe starren, die vor ihm lag. Wie um alles in der Welt sollte er da hinaufkommen? Seit Jahren schon schaffte er es kaum, drei Stufen am Stück zu nehmen, denn seine Beine waren mit dem Alter steif geworden und versagten ihm immer häufiger den Dienst. Er blickte wieder auf die junge, hilflos daliegende Dame. Sie brauchte seine Hilfe! Sollte sie womöglich sterben, weil der Doktor, der sie hätte retten können, keine Treppe hinaufsteigen konnte? Niemals! Kurz erwog er sogar die entwürdigende Möglichkeit, sich die Treppe hinauftragen zu lassen. Doch dann kam Hildebrandt plötzlich eine aberwitzige Idee.

Bedienung des Maurer-Union Doktorwagens mit Reibrad-Getriebe

Deutlich zu erkennen sind die Kurbel zum Einstellen des Reibrads, der Hebel, mit dem das Reibrad an die Schwungscheibe gepresst wurde und der Gashebel über dem Lenkrad. Foto: Andreas Straubinger

Der Motorwagen, der Treppen steigen konnte

Er erinnerte sich, dass bei einer Leipziger Ausstellung ein Maurer-Union Fahrzeug mit vier Personen beladen eine 40-prozentige Steigung erfolgreich hinaufgefahren war. Der Doktor starrte wieder auf die Treppe vor ihm und schätze ihre Steigung auf sicherlich über 50 Prozent – noch dazu handelte es sich um Stufen und nicht um eine ebene Fläche wie in Leipzig! Kurz zögerte Hildebrandt, doch dann packte ihn plötzlich wilde Entschlossenheit. „Halt dich gut fest, Junge“, raunte er seinem Beifahrer zu. Dann kurbelte er das Reibrad in die Nähe des Mittelpunktes der Schwungscheibe. Hildebrandt atmete noch einmal tief durch,  drückte das lederbezogene Rad mit dem Handhebel an die Scheibe und gab vorsichtig Gas. Der Doktorwagen setzte sich langsam in Bewegung. Plötzlich war es komplett still geworden im Innenhof des Theaters – nur das gleichmäßige Dröhnen des Motors war zu hören. Alle starrten gebannt auf den Doktorwagen, der unbeirrt auf die Treppe zuhielt. Ein Raunen ging durch die Menge, als er mit den Vorderrädern die erste Treppenstufe nahm. Mühsam nahm er auch die zweite, die dritte, die vierte. Hildebrandt krallte sich an seinem Lenkrad fest und drückte den Gashebel nun entschlossen bis zum Anschlag nach unten. Der Motor des Doktorwagens heulte auf und nun überwältigten auch die Hinterräder die erste Treppenstufe. Das Fahrzeug rüttelte, ächzte, die Räder rutschten durch, um kurz darauf wieder Halt zu finden – doch Hildebrandts Wagen kletterte tapfer Stufe um Stufe weiter nach oben. Endlich nahm der Doktorwagen die letzte Treppenstufe und kam neben der leblosen jungen Frau zum Stehen – und aus der entgeistert starrenden Menge wogte plötzlich tosender Applaus.

Ehre, wem Ehre gebührt

Hildebrandt löste seine verkrampften, schweißnassen Hände vom Lenkrad. Er hatte es geschafft. Unglaublich! Er ließ sich von seinem Sitz gleiten und ging stöhnend neben der jungen Dame in die Knie. Hildebrandt fühlte ihren Puls. Er ging gleichmäßig, wenn auch schwach. Der Doktor kramte ein Fläschchen Riechsalz aus seiner Tasche und hielt es ihr unter die Nase. Die Augenlieder der Frau flackerten kurz, dann schlug sie die Augen auf. „Kein Grund zur Beunruhigung, meine Dame. Sie sind nur ohnmächtig geworden. Anscheinend ist ihnen die Hitze des Theatersaals nicht bekommen.“ Hildebrandt übergab sie in die Obhut ihres Ehemanns, der sie liebevoll in die Arme nahm. Die Menge um ihn herum klatschte, einige klopften dem Doktor anerkennend auf die Schulter – doch dieser hatte nur noch Augen für seinen Maurer-Union Doktorwagen. Liebevoll und anerkennend strich er mit den Fingern über die roten Radschutzblenden. „Was für ein Wagen!“, war eine Stimme aus der Menge zu hören. „Ich habe schon viel von der Steigfähigkeit der Maurer-Union Fahrzeuge gehört, doch das übertrifft wirklich alles!“ Hildebrandt lächelte. „Ich könnte mir keinen treueren und zuverlässigeren Begleiter vorstellen“, erwiderte der Doktor. Seine Augen wurden feucht. Er stieg in seinen Wagen und ließ ihn langsam und vorsichtig die Treppenstufen hinunterrollen. Der erneut aufbrandende Applaus der Menge verhallte erst, als Hildebrandt seinen Doktorwagen schon an der Lorenzkirche vorbei in Richtung seines Zuhauses gelenkt hatte.

Ausgezeichnete Zuverlässigkeit

Der Doktor lächelte. Die Fahrzeuge der Maurer-Union konnte er wirklich uneingeschränkt empfehlen. Sie waren zuverlässig, robust, einfach zu warten und zu reparieren. Die zahlreichen Preise und Auszeichnungen bei den damals beliebten Zuverlässigkeitsfahrten und Rennen sprachen für sich. Es freute ihn, dass diese Nürnberger Motorfahrzeugfabrik dadurch mittlerweile in den Produktionszahlen nicht nur aufschließen konnte zu großen Namen wie Benz und Opel, sondern diese sogar überholt hatte.

Als Hildebrandt seinen Doktorwagen in der Scheune neben seinem Haus abstellte, lehnte er sich entspannt in seinem Fahrersitz zurück. Er strich liebevoll über das Lenkrad. Vielleicht konnte er seinen Beruf ja doch noch etwas länger ausüben – mit diesem kräftigen Assistenten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert