Ein verstaubtes Weihnachtswunder

Ein schrilles Geräusch ertönt. Das Schaben der Gardinenringe, die unsanft über die Vorhangstange gezogen werden, lässt ihn zusammenfahren. Was passiert hier gerade? Ist der Tag endlich gekommen?

Nach kurzem Zögern wird er von seiner Neugierde übermannt und versucht, dem grellen Lichtschein zu widerstehen, der die schäbige Abstellkammer durch einen kleinen Spalt im Vorhang beleuchtet. Enttäuschung macht sich sofort in ihm breit, als er durch den Spalt einen großen Tannenbaum im Wohnzimmer stehen sieht. „Ach so. Diese Zeit des Jahres hat wieder begonnen.” Die verdammte Weihnachtszeit. Alle haben etwas zu feiern. Freunde, Familie, Verwandte. Nur er nicht.  Diese Erkenntnis kommt allerdings nicht überraschend. So ist es schließlich jedes Jahr. Nichtsdestotrotz fühlt sich diese Jahreszeit für ihn immer wie eine emotionale Achterbahn an, da in diesen Tagen, immer erst wenige Wochen vor Weihnachten, der kleine Mathias mit seinem inzwischen schulterlangen braunen Haar und dem gestreiften Pullover vorbeikommt. Was sein Herzrasen auslöst? Er befindet sich nun schon einige Jahrzehnte in der gleichen düsteren Abstellkammer im gleichen verstaubten Regal und sehnt sich nach ein wenig Aufmerksamkeit. Dass diese glänzenden Kugeln, die mit Watte verzierten Weichnachtmänner und die mit Stroh ausgelegte Krippe direkt neben ihm stehen und jedes Jahr aufs Neue mit Vorfreude herausgekramt, schlägt ihm so allmählich auf die Schaltkreise.

Doch dieses Mal fühlt es sich anders an als all diese frustrierenden Jahre zuvor. Der kleine Mathias müsste inzwischen so etwa zwölf Jahre alt sein und als er diesmal den Vorhang der Abstellkammer aufreißt, liegt in seinen Augen mehr als nur die Vorfreude auf Weihnachten –  ein Glitzern, das ihm noch nie aufgefallen ist. Mathias sieht sich in allen Regalen aufmerksam um. „Kann ich endlich mein verstaubtes Domizil verlassen? Könnte nun vielleicht doch nach all den Jahren – ach sei doch nicht albern. Oder etwa doch?” Die Hoffnung entflammt erneut in seiner Bakelithülle und füllt seine Batterien wieder auf. Er fühlt sich, als könnte er sofort loslegen. Als nun der Enkel der Familie Mango endlich bei ihm angekommen ist, bleibt er eine ganze Weile vor dem Gerät stehen. „VE 301,“ liest er langsam vor. Vorfreude? Glück? Was genau fühle ich da?” fragt er sich, als er behutsam von Mathias gepackt und vom Regal genommen wird. In den letzten Jahren sind ihm andere Emotionen als unerfüllte Aufregung und Enttäuschung fremd geworden. Doch nun war sein Tag gekommen. Der Junge hält das Gerät in einer Hand, mit der anderen dreht er an den Reglern des Apparats herum. VE 301 war nun endlich bereit für ein weiteres Abenteu- „Hey! Jetzt pass doch auf! Willst du etwa, dass ich kaputt gehe?“

Mit 1000 Stimmen

Vor Schock lässt der neugierige Mathias Mango fast den VE 301 fallen, kann sich aber im letzten Moment noch zusammenreißen. „Puh. Das war knapp. Erschreck‘ mich doch nicht so, du kleiner Holzkasten“, stößt das Kind vor Erleichterung aus und gibt dem Gerät einen leichten Klaps gegen die Seite. Holz? Na so weit kommt’s noch.”, denkt sich der Apparat. „Kein Holz, viel zu plump. Ich bestehe aus Bakelit. Dem ersten vollsynthetisch hergestelltem Kunststoff“, sagt er mit 1000 verschiedenen Stimmen. Darauf hat Mathias erstmal keine Antwort, weshalb er das Gerät ohne weitere Worte mit ins Wohnzimmer zum Weihnachtsbaum nimmt, ihn auf den großen runden Teppich legt und sich neben ihn setzt.

„Warum redest du so komisch?“, fragt der Junge schließlich, nachdem er den VE 301 kurze Zeit still betrachtet hat.

Was meinst du? Ich rede doch auch nicht anders als du“, erwidert der Elektronikkasten verwundert in diesen vielen verschiedenen Stimmen.

„Na, ich mein‘ deine Stimme. Du hast so viele. Kannst du dich nicht für eine entscheiden?“, fragt Mathias.

Ach das meinst du“, sagt das Gerät belustigt aber verständnisvoll. „Ich bin ein Radio und als solches habe ich keine eigene Stimme. Ich bediene mich der Stimmen der Sender, die ich empfangen kann.“

Jetzt versteht Mathias so allmählich, was los ist. Ein heiteres Lachen erfüllt den Raum, als dem Kind endlich klar wird, was für ein Gerät vor ihm steht.

Jetzt war dem Zwölfjährigen die Neugierde nur so ins Gesicht geschrieben. Wann findet man schon mal ein sprechendes Radio? Tausende von Fragen schießen ihm durch den Kopf, doch welche sollte er nur als erste stellen? Er entscheidet sich für die nächstliegendste und fragt schließlich: „Warum kannst du reden?“
Darauf hat das Radio selbst keine richtige Antwort, teilt dem Jungen allerdings seine Vermutung mit: „Nach all den düsteren Jahren in eurer Abstellkammer, nach all den einsamen Jahren, in denen ich Zugriff auf Radiosender sämtlicher Natur hatte, ist mir die menschliche Art zu denken sozusagen eingeprügelt worden. Seit meinen Glanzjahren hat sich das Radioprogramm wirklich sehr geändert. Individuelle Gefühle statt Rede fürs gemeinsame Volk.“

Quelle: Mathias Niebisch

„Was meinst du mit dem Ausdruck deine Glanzjahre‘? Wann waren die denn?“, fragt Mathias. „Das war lange vor deiner Zeit. 1933 wurde ich das erste Mal vorgestellt auf einer Messe, wie es bis dahin noch keine gab. Der zehnten großen deutschen Funkausstellung“, ein kurzes Zögern, „als ‚Das Erste Kommerzielle Radio‘ wurde ich damals angepriesen. Volksempfänger VE 301. Ich hatte sogar einen eigenen Werbeslogan“, beginnt das Empfangsgerät mit vor Stolz anschwellender Stimme, „‚Rundfunk in jedes Haus‘. Ja. Das waren noch Zeiten für ein kleines Radiogerät wie mich.“

In seinen letzten Worten ist jedoch nicht nur Stolz herauszuhören; etwas bedrückt ihn, das ist Mathias ganz klar, weshalb er nun fragt: „Waren diese Zeiten denn nur für Radios gut?“

„Das war die Zeit des NS-Regimes. Entwickelt wurde ich hauptsächlich, um als Propagandagerät für die Nationalsozialisten herzuhalten. Deshalb habe ich leider keinen wirklich guten Ruf und wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 nicht mehr produziert und auch nur noch sehr selten benutzt.“

„Dann erzähl‘ doch mal, was das für eine Abkürzung ist, VE 301, fragt der Zwölfjährige, der bemerkt hat, dass dieses Thema nicht leicht für den Volksempfänger ist. Mit seiner Frage versucht er, dem Gespräch eine andere Richtung zu verleihen. Dass ihm dies nicht so ganz gelingt, wird ihm bei der Antwort des Funkkastens klar: „Die Modellbezeichnung VE 301 teilt sich in zwei Teile auf:  Der erste, dieses ‚VE‘ steht ganz einfach für Volksempfänger. Bei der Zahl 301 ist es nicht ganz so einfach. Um das verstehen zu können, musst du wissen, dass die Nazis am 30. Januar 1933 die politisch vorherrschende Macht in Deutschland wurden. Die 301 in meinem Namen ist eine Art Tribut an den Tag der Machtergreifung, der 30.1..“

Der „Volksempfänger” Foto: Konstantin Wengert

„Aber du hast doch bestimmt nicht nur als Propagandakeule gedient, oder?“, fragt Mathias nun in einem letzen Versuch, etwas Nettes in dem Apparat zu entdecken.

„Aber selbstverständlich!“, antwortet das Radio nun ohne zu zögern, „Ich konnte nicht nur deutsche Sender empfangen. Mir wurde immer nachgesagt, ich wäre nicht dazu in der Lage gewesen, ausländische Sender zu empfangen, da ich als Mittel- und Langwellenempfänger gebaut worden bin. Allerdings wurde ich von Anfang an unterschätzt. Besonders gut war der Empfang ausländischer Sender nachts möglich, da aufgrund der Raumwellen die Reichweite erhöht wurde.“

Mathias und VE 301 wirken erleichtert. Endlich etwas Gutes an dieser Funkkiste. Von Technik hat der Zwölfjährige allerdings keine Ahnung, weshalb er beschließt, dem Volksempfänger nicht ins Wort zu fallen. Das Radio ist so froh, dass es jemanden gibt, der nicht nur die negativen Auswirkungen seiner Existenz erkennt; er kann sich gar nicht mehr bremsen: „Der Slogan ‚Rundfunk in jedes deutsche Haus‘ wurde von den Nazis geprägt, aber er hat auch sein Positives. Als erstes kommerzielles Radio wurde ich so konzipiert, dass sich jeder Haushalt ein Gerät leisten konnte. Und was ist ein Radio in erster Linie? Ein Mittel zur Beschaffung von Informationen. Ich wurde für böse Dinge missbraucht, allerdings wurde mit mir der Grundstein für die heutigen Radiogeräte gelegt.“

Der Tag seines Lebens

Das Gespräch geht noch eine ganze Weile so weiter, bis die beiden im Hintergrund die Großeltern näher kommen hören. Als deren Schritte immer lauter werden, wird das Gespräch der beiden immer hektischer. Das Radio will nicht wieder in den Staub zurück und Mathias will seinen neu gewonnenen Freund nicht gleich wieder verlieren. Ein Plan muss her. Sollte Mathias den Apparat einfach klauen? Ihn verstecken?”, nein, damit würde er niemals durchkommen. Den Großeltern erzählen, was er entdeckt hatte?”, und damit das Risiko eingehen, dass sie ihm seinen Freund wegnehmen würden? Auch keine gute Idee.

Die Tür geht auf und in diesem Moment kommt im die perfekte Idee. Mit einer kurzen Geste weist er das Radio darauf hin, ihm das Reden zu überlassen und leise zu bleiben. „Oma, Opa. Seht mal, was ich in der Abstellkammer gefunden hab! Ein altes Radio“, ruft Mathias seinen Großeltern mit einem strahlenden Lächeln entgegen. „Oh, wo hast du dieses staubige Ding denn hervorgekramt?“, fragt die Großmutter mit einer ungläubigen Miene auf dem faltendurchzogenen Gesicht.

Sie war schon im Begriff, den VE 301 aufzuheben und zurückzutragen, als sich der mutige Zwölfjährige mit ausgebreiteten Armen direkt vor seine Großmutter stellt und ruft: „Halt! Ich will den haben. Wir haben doch bald Weihnachten. Könnt ihr mir den nicht schenken? Bevor er wieder in der Abstellkammer verschwindet?“

„Aber aber mein Junge. Was willst du denn mit so einem alten Teil? Ich weiß ja auch gar nicht, ob es noch funktioniert“, mischt sich nun auch der Großvater ein.

„Für mich spielt es keine Rolle, ob er noch funktioniert oder nicht. Er gefällt mir“, fleht der Junge seine Großeltern an.

Mathias Einsatz für den kleinen Empfänger rührt den VE 301 so sehr, dass er sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Sender in Windeseile durchforstet, um ein passendes Lied zu finden – sowohl zum Dank als auch um zu beweisen, dass er noch funktioniert. Nach kurzer Zeit findet das Radio das perfekte Lied: „Thank You“ von Dido. Jetzt nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und spielt: … and I want to thank you for giving me the best day of my life…

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