Fahrradlenker mit Tacho (Foto: Marcel Proff)

Nürnbergs Phoenix

Staub rieselt aus den Zacken ihrer Krone, als Victoria den Kopf dreht um sich umzuschauen. Schutt und Bretter versperren ihr die Sicht. Es riecht nach verbranntem Holz. Sie liegt unter den Trümmern des Werks I in der Ludwig-Feuerbach-Straße in Nürnberg.

Langsam versucht sie sich aufzurichten, räumt die Überreste der ehemals stolzen Victoria-Werksanlagen von ihrem Schoß. Staub wirbelt auf. Nachdem er sich gelichtet hat, sieht sie das ganze Ausmaß der Zerstörung. Drei Viertel aller Werksanlagen sind durch die massiven Bombenangriffe der Royal Air Force zerstört worden. Ihr Blick wandert durch die Ruine des Werks und bleibt bei den 28 Männern und den zwei Frauen hängen, die bereits begonnen haben, das Werk I wieder aufzubauen. Schritt für Schritt balanciert Victoria über die Trümmer in Richtung der Mitarbeiter. Mit entschlossenem Blick beginnt auch sie die Bretter und Mauerreste beiseite zu räumen. Ihr Blick fällt auf eine Kiste, die unscheinbar unter einem Berg aus Steinen begraben ist. Sie nimmt den Henkel der Kiste in ihre Hand und zieht kräftig daran. Die Steine fallen mit einem lauten Krachen auf den Boden.

Zerstörtes Werk in der Ludwig-Feuerbach-Straße

Werk I nach 2.Weltkrieg Foto: Manfred E. Sprenger (2016) Victoria Buch der Victoria IG

Die Oberseite der Kiste ist mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Victoria fährt langsam mit ihrer rechten Hand über den Deckel. Albert Roder Chefkonstrukteur Victoria Werke AG Nürnberg ist als Inschrift zu lesen. Voller Erwartung legt sie ihre Hände auf die Verschlüsse an der Vorderseite der Kiste, öffnet sie und stößt den Deckel nach oben.

 

38 Kubikzentimeter

Metallisch glänzt es ihr entgegen, so sehr, dass sie kurz die Augen schließen muss. Vorsichtig blinzelt sie, öffnet erst ein Auge, anschließend das zweite. In der Kiste liegt ein bauchförmiger, nach hinten spitz zulaufender Motor mit einem flügelförmigen Auspuff. Das V der Victoria-Werke prangt auf der Aluminium-Außenhaut der Motorabdeckung. Aus der Abdeckung ragt ein geriffelter Zylinder nach oben hinaus. Victoria greift in die Kiste und hebt den Gegenstand mit beiden Händen heraus. Sie inspiziert den Vergaser an der Oberseite des Zylinders und den Auspuff, der aus der Seite herausragt. Vorsichtig beginnt sie, den Motor zu drehen. Bei dem an der Vorderseite angebrachten Typenschild verharrt sie. FM 38 L „Vicky“ ist darauf zu lesen. „Hubraum 38 ccm, Leistung 1 PS“, murmelt sie leise vor sich hin und dreht den Motor noch ein Stück weiter. Auf seiner Rückseite findet sie ein kleines Kettenrad, das aus dem Inneren des Motors hervorsteht und angetrieben werden kann. Nachdem Victoria den Motor von allen Seiten inspiziert hat, legt sie ihn behutsam auf einen der herumliegenden Steine und greift noch einmal in die Kiste von Albert Roder.

Montierter FM 38 mit Auspuff, Vergaser und Zylinder Foto: Marcel Proff

Ein stimmiges Konzept

Dieses Mal zieht sie einen Gepäckträger mit eingebautem Kraftstoffbehälter und ein Antriebskettenrad mit Befestigungsflansch heraus. Sie greift sich einen weiteren der herumliegenden Steine und platziert diesen über dem, auf dem der Motor ruht. Vorsichtig legt sie den Gepäckträger mit Kraftstoffbehälter darauf. Das Kettenrad klemmt sie unter den Motor, in die Nähe des kleinen Kettenrads, das sie auf der Rückseite des FM 38 entdeckt hat. Victoria richtet sich auf, tritt einen Schritt zurück und betrachtet die Gegenstände, die sie auf dem Boden angeordnet hat. Die Anordnung ergibt ein stimmiges Bild. Ein kleiner, leistungsstarker Motor, versorgt von einem darüber liegenden Tank, der eine Achse antreibt. Nur ein Gestell fehlt noch, das die Einzelteile miteinander verbinden kann. Victoria blickt noch einmal in die Kiste.
Auf dem Boden befindet sich eine Broschüre, die sie bis jetzt für Zeitungspapier gehalten hatte, das die Komponenten schützen sollte. Mit ein, zwei Atemstößen ist sie von der dünnen Staubschicht befreit. Die Vorderseite ziert ein Victoria Sportmodell Fahrrad mit dem FM 38, der an der Seite des Rahmens montiert ist. Langsam senkt Victoria die Broschüre und blickt über den Rand auf den 38ccm-Motor, der immer noch auf dem Stein vor ihren Füßen ruht. „1 Zylinder, 2 Takte, Bohrung 35mm, Hub 40mm, maximale Umdrehungen 5500/min, Verbrauch ca. 1,5 l/100 km bei einem Gewicht von gerade mal 6,5 kg“, vervollständigt Victoria die technischen Daten des Hilfsmotors.

Antriebskonstruktion bei montiertem Hilfsmotor Foto: Marcel Proff

Aus der Asche

Sie tritt an eines der geborstenen Fenster und blickt auf die Ludwig-Feuerbach-Straße hinaus. Menschen zu Fuß und auf Fahrrädern säumen das Straßenbild. Kaum ein Motorengeräusch ist zu hören. Motorisierte Zweiräder kann Victoria aufgrund der Hubraumbeschränkung der alliierten Siegermächte auf 40ccm gar nicht entdecken.
Ungefähr an erster Stelle steh’n VICTORIA-Sportmodelle. Darum schafft ein kluger Mann sich VICTORIA-Räder an, entnimmt Victoria der Rückseite der Broschüre in ihren Händen, weiter steht da: Wer jedoch nicht gerne trampelt oder sich schnell müde strampelt, der kauft VICKY-Hilfsmotor und kommt sich ganz glücklich vor. Ein weiterer Blick auf die Straße verrät ihr, dass die Menschen genau auf das warten, was sie gerade aus der Kiste Albert Roders gezogen hat: einen kleinen, sparsamen, günstigen und vor allem nachrüstbaren Hilfsmotor für Fahrräder, der die Mobilität der Nachkriegszeit neu gestalten sollte.

Voller Tatendrang beginnt Victoria mit ihren Mitarbeitern erst das zerstörte Werk I wieder aufzubauen und anschließend den im Krieg nicht fertiggestellten Neubau in der Nopitschstraße zu beziehen. Nur ein Jahr nach Beendigung des Krieges und nur mit den wenigen vorhandenen Möglichkeiten beginnen die Victoria-Werke mit der Produktion von Albert Roders Hilfsmotor FM 38 und mit der Remobilisierung Deutschlands. Victorias Annahme sollte sich bewahrheiten. Von dem kleinen Hilfsmotor verkauften die Victoria-Werke insgesamt rund 100.000 Stück.

Auf Rekordjagd

Durch die geniale Konstruktion Roders, mit einem Kurbelwellen-Drehschieber zur Regelung des Einlasses, mit einem schwimmerlosen Vergaser zur Zuführung des 1:25 Gemisches und einer Spreizring-Kupplung mit zwei Gängen war ein Fahrrad mit Vicky Motor so gut wie unaufhaltsam. Das bewies Hermann Wolf bei seiner Rekordfahrt von Berlin über Istanbul nach Nürnberg mit dem 40.000ten Motor aus dem Hause Victoria. Die steilen Alpenpässe meisterte er dank dem ersten Gang, der mit dem Hebel auf der linken Seite des Lenkers eingelegt wurde. Griechenlands Hitze konnte den tapferen FM 38 nicht stoppen, da er sich seitlich des Rahmens und damit im perfekten Luftstrom befand.Victoria bewies jedoch nicht nur die Durchhaltefähigkeit ihres Aggregats. Um den FM 38 noch attraktiver zu machen und den Absatz zu erhöhen, beauftragte Victoria ihre Mitarbeiter mit der Konstruktion eines Rennmotors, der den Geschwindigkeitsrekord in der Klasse bis 50ccm aufstellen sollte. Mit einem getunten Motor, jedoch ohne eine Veränderung des Hubraums, ging ein furchtloser Georg Dotterweich an einem kalten Morgen im April 1951 auf der Autobahn München-Ingolstadt auf Rekordjagd.

„Der harte Mann mit dem zarten Namen“

„Das Fahrrad ist kaum wieder zuerkennen. Um den Luftwiderstand auf ein Minimum zu reduzieren, ist die Fahrerposition konsequent in die Horizontale gelegt. Die Mechaniker der Victoria Werke haben ihr Bestes gegeben und zwei Motoren hergerichtet. Ansaug- und Spülkanäle, Steuerzeiten und Verdichtung des Motors haben sich verändert, um 2,15 PS bei 7.600 Umdrehungen/min und die Spitzendrehzahl von 10.000 Touren zu erreichen“, schallt es am 12. April 1951 aus den Lautsprechern der Radios rund um Nürnberg. Gebannt sitzt Victoria mit ihren Konstrukteuren davor und lauscht dem Verlauf der Rekordversuche.
„Beim ersten Versuch heute früh war Rennfahrer Georg Dotterweich von einer Windböe umgeworfen worden. Die Maschine wurde beschädigt. Unverdrossen besteigt der harte Mann mit dem zarten Namen sein zweites Rad. Endlich, der Rennfahrer kann seine Versuchsfahrt mit der hochgezüchteten Victoria Vicky beginnen. Von Kollegen angeschoben, geht Dotterweich auf die Bahn. Die erste Vorbeifahrt. Der Pilot liegt waagerecht auf dem Rad. Er muss ohne Sicht voraus fahren und kann nur die Fahrbahn sehen. Er muss einfach den weißen Streifen im Auge behalten, der unter ihm auf die Fahrbahn gemalt wurde. Was für ein Mut! Der Zeitnehmer gibt mit der Fahne ein Zeichen. Es hat nicht gereicht.“ Entäuschung macht sich auf den Gesichtern der Radiohörer breit. Doch aufgeben ist keine Option. Ein erneuter Versuch sollte den Rekord in der 50ccm Klasse bringen. „Nun wird die Maschine mit Fahrer nochmals angeschoben. Dotterweich gibt Gummi und saust davon. Da, der Zeitnehmer winkt mit der Fahne und kommt auf uns zugelaufen. Das muss eine Rekordfahrt gewesen sein. Gerade hat Georg Dotterweich den Weltrekord in der Klasse bis 50 Kubikzentimeter gebrochen. 79 Stundenkilometer liegend auf einem motorisierten Fahrrad! Es ist gelungen mit einem 38ccm Motor in der 50ccm Klasse.“ Der Jubel an der Strecke und in der Victoria Werken ist unbeschreiblich. Nur fünf Jahre nach Beginn der Produktion des Vicky Hilfsmotors konnten bereits Rekorde eingefahren werden.

Dotterweichs Rekordmaschine von 1951 Foto: User Beademung auf Wikipedia, CC BY-SA 3.0

Neid und Wandel

Der zuverlässige FM 38 fand schnell viele Nachahmer. Bloche und Wittekind sowie Komet konstruierten Aggregate, die eindeutig vom Victoria Motor inspiriert waren und sich nur in kleinsten Details von ihm unterschieden. Doch der ehemalige Victoria-Konstrukteur Anton Fuchs brachte in Österreich eine besonders dreiste Kopie auf den Markt, den Fuchs FM 40. Nicht nur der Name des Motors war an den der Victoria Werke angelehnt, auch die 1946 von Albert Roder patentierte Befestigung des Motors an einem Hilfsrahmen beziehungsweise Gepäckträger wurde verletzt. Der schwimmerlose Vergaser, die Spreizring-Kupplung und der Kettenantrieb, die in beiden Hilfsmotoren verwendet wurden, waren allerdings schon lange vorher bekannt und daher nicht patentierfähig gewesen.

Zwei Jahre nach Dotterweichs Rekordfahrt veränderte sich der Zweiradmarkt in Deutschland. Am 23. Januar 1953 wurde eine neue Fahrzeugklasse als Abgrenzung zum leichten Fahrrad mit Hilfsmotor geschaffen: das Moped, ein ein- oder zweisitziges kleines Motorfahrrad, mit maximal 50ccm Hubraum und Pedalen zum Starten des Motors und zur Nutzung der Rücktrittsbremse. Während die anderen Hersteller die Hilfsmotoren bei der Umstellung der Produktion auf Mopeds ausmustern, bleiben Victoria und ihre Konstrukteure dem FM 38 treu. Er soll nun die Antriebsquelle für die ersten Victoria-Mopeds Vicky II sein. Dafür modifizieren die Konstrukteure das Triebwerk nur leicht und setzen es unten in den Rahmen.
Schweren Herzens trennt sich Victoria von ihrem FM 38, als für das Vicky III-Moped eine neue Antriebsquelle konstruiert wird. Jahrelang beanspruchte der hochgezüchtete Motor trotz seines geringen Hubraums den Fahrradrahmen enorm. Die Kraft des Triebwerks zog das Heck nach links, während sich die Front nach rechts verschob. Mit dem unrühmlichen Namen „Zweispur-Motor“ ging der FM 38 in das Jargon der Fahrradhändler ein.

Die letzten Jahre

1957 steht Victoria wieder am Fenster der Produktionshallen und blickt auf die Straßen hinaus. Langsam lässt sie ihren Blick von links nach rechts schweifen und denkt an die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Keine Trümmerberge zieren mehr das Straßenbild, Wohlstand zeigt sich. Die Zeiten des Wirtschaftswunders verändern auch die Ansprüche der Menschen an die Mobilität.
Victoria dreht sich um und schaut in Richtung Ausgang der Produktionshalle. Nur noch wenige Zweiräder verlassen das Werk. Die Menschen sehnen sich nach einem Automobil. Mit einer Beteiligung an der Bayerischen Autowerke AG beginnt Victoria mit ihren Mitarbeitern die Produktion des Spatz. Ausgestattet mit einem 250ccm Einzylinder-Zweitaktmotor und einem elektro-magnetischen Ziehkeil-Vorwahlgetriebe mit fünf Gängen, ähnlich dem aus den vorherigen Swing-Motorrädern, soll der Kleinwagen die Zweirad-Krise für die Victoria-Werke überwinden.

Zusammenschluss der Zweirad-Hersteller Victoria, DKW und Express Foto: Manfred E. Sprenger (2016) Victoria Buch der Victoria IG

Doch es kommt alles anders. Die Produktion wird nur ein Jahr später eingestellt und Victoria sieht sich gezwungen, mit anderen Zweirad-Herstellern zu kooperieren und sich zur Zweirad Union AG zusammenzuschließen. Als 1966 der Fichtel & Sachs-Konzern die Mehrheiten an der Zweirad Union kauft und die Produktion seiner Marke Hercules in die Victoria Werke an der Nopitschstraße einzieht, sieht Victoria den Zeitpunkt gekommen, zurückzutreten.

1969 verabschiedet sie sich aus der Zweirad-Welt, als die letzten Mopeds unter ihrem Namen aus den Prospekten verschwinden. Doch ihr Vermächtnis wirkt weiterhin. Motoren zur Unterstützung beim Radfahren erleben mit den E-Bikes und Pedelecs eine Renaissance. Wie einst mit dem FM 38 werden auch mit seinen elektrischen Verwandten Geschwindigkeitsrekorde eingefahren. Der jüngste in Nürnberg, genau 60 Jahre nach Dotterweich.

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