Technik inszenieren – Motorraddesign

Schicht für Schicht schabt die Metallklinge das warme, lehmartige Material von der Oberfläche. Hellbraune Brösel, die auch Schokolade sein könnten, sind über den Boden verstreut. Jeder Zug wird von einem langen Kratzen begleitet.

Nach jeder dritten Bewegung streicht Sven Hoffmann nochmal mit den Fingern über die Knetmasse, die in Fachkreisen meist nur „Clay“ genannt wird. Die erfahrenen Augen erkennen jede noch so kleine Unebenheit. Vor wenigen Stunden gab es eine weitere Änderung im Design, die umgehend ins dreidimensionale Modell übertragen werden muss. Sven hat bereits an vielen Autos, LKW-Cockpits und Geländelimousinen aus Plastilin gearbeitet. Auch Motorräder stehen ab und zu in der gut beleuchteten Halle der Münchner Designfirma. „Beim Motorrad ist halt alles etwas fummeliger“, sagt der bärtige Oberfranke, als er eine noch dünnere Stahlklinge aus seinem weißen Rollschrank holt.

Vermittlerposition

Im Münchner Norden, nur wenige Minuten entfernt, diskutiert Alexander Buckan zusammen mit drei anderen Stylisten verschiedene Designentwürfe eines neues Motorrads. Das neue Modell soll ab 2018 in Serie produziert werden. Und Buckan ist dabei, neben seiner Rolle als Head of Vehicle Design, Bindeglied zwischen Entwicklern, Marketing, Designern und Modelleuren.

Auch in Zeiten von Photoshop und digitalen Zeichentablets gehören Stift und Papier zu den wichtigsten Arbeitsmaterialien der Fahrzeugstylisten. „Die erste Zeichnung ist eigentlich immer handskizziert, mit Kuli oder Farbstift“, sagt Buckan. Er hält diese Skizzen für elementar. Ihre Seele möchte er von Entwurf zu Entwurf, von Modell zu Modell und schließlich bis in die Produktion bewahren. Schließlich entstehen sie zu einem Zeitpunkt, an dem viele technische Rahmenbedingungen noch geändert werden können. Die gesamte Entwicklung eines neuen Motorrads umfasst vier bis sechs Jahre. Und allein die Skizzenphase kann bis zu sechs Wochen dauern.

Eine Skizze der späteren BMW S 1000 R (Quelle: BMW Motorrad)

Eine Skizze der späteren BMW S 1000 R (Quelle: BMW Motorrad)

Die Optik hängt vor allem vom jeweiligen Fahrzeugsegment und der Fahrzeugfamilie ab. Hersteller nutzen oft eine technische Basis für verschiedene Konzepte. Bei KTM gibt es beispielsweise nicht nur eine 690er Enduro, auch das Nakedbike Duke nutzt den 67-PS Einzylinder. Dennoch unterscheiden sich beide Bikes deutlich voneinander. Den typischen Zweizylinder-Boxermotor findet man bei BMW im Reisetourer, Roadster und Geländemotorrad. Fahrwerksgeometrie, Radstand, Ergonomie und Tankvolumen werden dabei auf den jeweiligen Einsatzzweck abgestimmt. Auch das Design folgt diesen Regeln, weshalb die geländegängige GS eher die Ästhetik eines Werkzeugs versprüht, während Sportbikes dynamisch-aggressiv wirken. Damit das Zweirad dennoch zugehörig wirkt, finden sich bestimmte Designmerkmale innerhalb dieser Familien. Buckan spricht an dieser Stelle auch gerne von DNA, die jedem Bike mitgegeben wird.

Die Proportionen folgen dem Segment (Quelle: BMW Motorrad)

Die Proportionen folgen dem Segment (Quelle: BMW Motorrad)

Im Laufe der Entwicklung definieren technische Sachzwänge, gesetzliche Vorgaben und Entwicklungskosten Grenzen, die Designer aber auch als Chance und Herausforderung sehen. Nach Definition der technischen Basis entstehen zunächst mehrere Entwürfe. Bereits diese frühen Varianten werden, wenn auch grob, in ein 3D-Proportionsmodell übersetzt. Die unmittelbare Verbindung von Technik und Design erfordert eine ständige Abstimmung mit dem Entwicklungsteam. „Es ist wirklich ein Ping-Pong-Spiel. Der Designer und der Ingenieur sitzen zusammen und entwickeln das Ding gemeinsam“, beschreibt Buckan. „Die Entwicklung läuft parallel.“ Schritt für Schritt werden die Proportionen definierter; doch oft genug muss nach Feedback der Ingenieure an einer alternativen Lösung gearbeitet werden.

Auch die Modelleure sind Teil des Designprozesses. Mithilfe von Skizzen und Daten aus dem Computer gestalten sie ein maßstabsgetreues Clay-Modell des Motorrads. Erst hier wird wirklich sichtbar, wie die Flächen in der Gesamtheit wirken, und ob nun Änderungen vom Modell ausgehend zurück in den Computer übersetzt werden müssen. Wenigstens haben es die Designer nicht allzu weit: Das gläserne Großraumbüro im ersten Stock bietet einen guten Überblick über die Modellwerkstatt darunter.

Clay Modelle der K 1600 GT (links) und R 1200 GS (rechts) (Quelle: BMW Motorrad)

Clay Modelle der K 1600 GT (links) und R 1200 GS (rechts) (Quelle: BMW Motorrad)

 

Je nach Auslastung und Stand arbeiten ein bis zwei, manchmal auch drei Zeichner an einem Projekt. Damit das Fahrzeug von einer stringenten Designlinie beherrscht wird, gibt es dabei immer einen Lead-Designer, wie Buckan bei der 2013 neu erschienenen R 1200 GS. Bei derartigen Neuentwicklungen läuft nahezu jedes sichtbare Teil über den Tisch der Fahrzeugdesigner. Im Falle der GS wurde, mit Ausnahme der Blinker, alles neu konzipiert und demzufolge auch neu gezeichnet. Je nach Bauteil hat der Formgestalter mal mehr, mal weniger Spielraum. Kosten, Gewicht und Materialstärken sind nur ein paar der Faktoren, die dabei beachtet werden müssen. Denn auch wenn der Zeichner die Phrase für überstrapaziert hält: „Form follows function“, die Funktion bestimmt das Aussehen. Viele Verkleidungsteile entstehen primär aus aerodynamischen Überlegungen. So erzeugt beispielsweise die Kühlerabdeckung der GS während der Fahrt einen Unterdruck. Dieser entzieht dem Kühler die warme Abluft und hält den Boxer somit zusammen mit Ölkühler und Kühlrippen auf Betriebstemperatur.

Ein Gegenpol zu einer vernetzten Welt

Dass das Kunststoffteil dabei auch noch möglichst gut aussieht, ist Aufgabe der Designer und steht stellvertretend für viele Bauteile, die, im Gegensatz zum Automobildesign, nicht unter großflächigen Karosserieteilen verborgen bleiben. Alexander Buckan, der vorher auch Autos gestaltet hat, verdeutlicht den Unterschied: „Beim Motorrad steht der Motor im Vordergrund. Möglichst viel Technik inszenieren, nicht nur sichtbar machen, sondern möglichst schön sichtbar machen.“ Obwohl Motorräder ebenso immer stärkere Umweltauflagen und Sicherheitsstandards erfüllen müssen, sehen Buckan und andere Designer gelassen in die Zukunft. „Das Motorrad wird ein Inselprodukt bleiben. Und gewissermaßen einen Gegenpol bilden zu autonomem Fahren, miteinander vernetzten Autos und einer sich immer dichter vernetzenden Welt.“

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