Zahnarztbesuch 1920

Grelles Licht. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Vom Fenster dringt Vogelgezwitscher herein. Ein schrilles Summen lässt es verstummen. Bis der Bohrer auf etwas Hartes trifft. Und sich in den Zahnschmelz frisst. Bei manchen auch bis ins Langzeitgedächtnis.

So sehr, dass er Kinder eindrucksvoller ans Zähneputzen erinnert, als jedes noch so strenge Wort der Eltern. Der Bohrer ist das schrecklichste aller Instrumente, die vor dem Patienten aufgereiht auf ihren Einsatz warten. Auch ohne Zahnarztphobie und mit Betäubungsspritze. Umso eindrucksvoller, sich einen Zahnarztbesuch vor hundert Jahren vorzustellen. Eine zeitgenössisch eingerichtete Praxis im Museum für Industriekultur in Nürnberg zeigt aber, dass sich dabei gar nicht so viel geändert hat.

Lachgas und Einheitsgerät

Behandlungsstuhl mit Bohrer im Vordergrund Foto: Ferdinand Heinrich

Mit der fortschreitenden Industrialisierung und Elektrifizierung gelangte auch immer mehr Technik in die Arztpraxen. Fortschritte in der Chemie ermöglichten schon um 1800 die Vermeidung oder Minderung von Schmerzen, um 1900 hatte das als Lachgas bekannte Stickstoffoxydul Äther und Chloroform als Narkosemittel abgelöst. In dieser nachgebildeten Nürnberger Praxis vermischt der „Sauerstoff-Überdruck-Mischnarkose-Apparat“ aus dem Jahre 1927 Lachgas und Sauerstoff in den Mischbeutel. Die Bewegungen dieses Beutels stellten eine sichtbare Kontrolle der Atmung des Patienten dar. Heute wird lokal betäubt, mit einer Spritze in unmittelbarer Nähe des Zahns. „Eine Vollnarkose gibt es eigentlich nur noch bei großen Eingriffen oder bei Patienten, die sonst Panik bekommen würden“, beschreibt Zahnarzthelferin Lisa Meissner die heutige Praxis. Eine Zahnarztphobie haben aber wohl weniger, als oft angenommen. „Natürlich freut sich keiner drauf. Aber wer Angst vorm Zahnarzt hat, geht wohl auch erst gar nicht hin.“, so die 26-Jährige Assistentin.

 

Ablagefläche. Die Instrumente könnten heute noch verwendet werden. Foto: Ferdinand Heinrich

Aber auch damals dürfte neben Zangen vor allem der Bohrer Ängste geschürt haben, vielleicht noch mehr als heute: zunächst mechanisch und handbetrieben, später fußbetrieben und mit 800 Umdrehungen pro Minute. Effizienter wurden die Bohrmaschinen erst mit elektrischem Antrieb. Der Komfort des Patienten schien ohnehin nachrangigen Stellenwert zu haben. Waren jahrhundertelang normale Stühle und Sessel in Gebrauch, zogen erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts verstellbare und bequeme Möbel in die Zahnarztpraxen. Diese Behandlungsstühle, in diesem Beispiel von Ash & Sons, kombinierten bereits jetzt Fußpumpstuhl, Speisäule und Ablageflächen für den Zahnarzt, der ebenfalls von der besseren Ergonomie profitierte. „Der Bohrer wird übrigens immer noch mit Fußpedal gesteuert“ fügt Lisa Meissner lachend hinzu. Auch die anderen Geräte, die heute den Patienten umgeben, wurden damals ähnlich verbaut. Bereits 1917 vereinte das sogenannte Ritter-Einheitsgerät Schalttafel, Bohrer, Speifontäne, Speichelsauger, Schwebetisch, Wasser und Luftspritzen.

Strahlenbehandlung

Die aus damaliger Sicht modernste Entwicklung stellte jedoch das Röntgengerät dar. Obwohl Wilhelm Röntgen die nach ihm benannten Strahlen erst 1895 entdeckte, waren diese Geräte bereits um 1910 verbreitet. Die Technologie bot den Zahnärzten gänzlich neue Untersuchungsmöglichkeiten. Gleichzeitig wussten Ärzte schon damals von den gefährlichen Nebenwirkungen der Strahlenbehandlung. Trotzdem waren Aufnahmen ohne schützende Bleiplatten die Regel. Erst in den 1920er Jahren wurden Vorschriften erlassen.

Obwohl Besucher nicht im Behandlungsstuhl Platz nehmen dürfen, reichen wenige Minuten um sich vom detailliert eingerichteten Behandlungsraum einnehmen zu lassen. Überwiegt im ersten Moment der Eindruck eines Folterzimmers, erschließen sich Stück für Stück die Funktionen der einzelnen Geräte. Bis der Besucher erkennt, was auch viele andere Exponate vermitteln: das Rad wurde nicht ständig neu erfunden, nur weiter entwickelt. Genauso wie der Zahnarztbohrer.

Auch am Aufbau hat sich in 100 Jahren nicht viel verändert. Foto: Ferdinand Heinrich

Informationen zum Museum:

Museum Industriekultur
Äußere Sulzbacher Straße 62
90491 Nürnberg

Öffnungszeiten: Di – Fr 09:00 – 17:00 Uhr, Sa und So 10:00 – 18:00 Uhr

http://www.museen.nuernberg.de/museum-industriekultur/

 

 

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