Armut in Deutschland: Ein unlösbares Problem?

Armut ist ein komplexes und emotionales Thema. Es betrifft aber nicht nur Entwicklungsländer, sondern auch Wohlstandsgesellschaften. In der Stadt Nürnberg sind davon vor allem Kinder und Jugendliche, Langzeitarbeitslose und zunehmend ältere Menschen besonders häufig betroffen.

Die 41-Jährige Marina Müller (Name geändert) aus Nürnberg sitzt an ihrem Küchentisch. In der einen Hand hält sie ihren Geldbeutel, in der anderen ihre Einkaufsliste. Sie überlegt, was sie für den restlichen Monat noch alles benötigt, um über die Runden zu kommen. Anschließend zählt sie ihr übriges Geld. Darauf verwandelt sich Müllers Blick in eine Mischung aus Verlegenheit, Scham, Traurigkeit, aber auch Wut. Aber warum? Die 41-Jährige bezieht Hartz-IV und ist eine von fast 130.000 Personen in Nürnberg, die von Armut bedroht sind. Aber was bedeutet es für Marina Müller und andere Betroffene überhaupt arm zu sein?

Armut in Deutschland und gesundheitliche Folgen

Das Thema Armut ist noch immer ein Tabu. Dabei ist arm zu sein schon lange keine Seltenheit mehr in Deutschland. Jeder sechste Bürger war im Jahr 2019 von Armut bedroht. Das entspricht etwa 14 Millionen Menschen. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich das sogar noch verschärft. So sind sowohl in Deutschland als auch speziell in Nürnberg die Kurzarbeit- und Arbeitslosenzahlen vor allem während des ersten Lockdowns im März/April 2020 im Vergleich zu den letzten Jahren stark gestiegen. „Das heißt aber noch nicht zwingend, dass massenhaft Armutsprobleme drohen“, erklärt Thomas Rinklake, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sozialreferats der Stadt Nürnberg. Dennoch sind immer mehr Menschen durch die Corona-Krise zunehmend in ihrem finanziellen Handlungsspielraum eingeschränkt. Die Corona-Pandemie begünstigt aber nicht nur, dass Menschen zum Beispiel aufgrund des Verlustes ihrer Arbeit in Armut geraten können, sondern benachteiligt auch bereits in Armut lebende Personen. „Ärmere Menschen sind häufiger krank, auch chronisch krank und haben Vorerkrankungen, was mit Blick auf Corona natürlich das Risiko auf einen schweren Verlauf begünstigt“, erklärt Thomas Rinklake.

Ärmere Menschen sind also vor allem gesundheitlich benachteiligt. Aber auch in finanzieller und sozialer Hinsicht ist es für sie schwieriger die Pandemie zu bewältigen. Dazu trägt auch die neu eingeführte FFP2-Maskenpflicht bei. Der aktuelle Preis einer FFP2 Maske aus der Apotheke liegt bei etwa 5 Euro. Für rezeptfreie medizinische Erzeugnisse stehen Hartz-IV Empfängern/-innen monatlich jedoch nur 2,50 Euro zur Verfügung. Da es sich bei FFP2-Masken in der Regel um Einmalprodukte handelt und sie grundsätzlich nicht mehrfach genutzt werden sollten, sind monatlich mehrere Masken pro Person nötig.

Nach Verkündung der Maskenpflicht ging Marina Müller in die Apotheke, um sich fünf Masken zu kaufen. Wie viel das kostet, wusste sie dabei nicht. „Ich ging eigentlich von relativ niedrigen Preisen aus, da wir ja verpflichtet wurden, solche Masken zu tragen“, berichtet sie. Verlassen hat sie die Apotheke letztendlich nur mit einer Maske. „Das unter anderem bedeutet für mich arm zu sein“, erzählt Müller. „Jeden Cent dreimal umdrehen zu müssen, weil ich mir von meinem Hartz-IV nicht einmal alltägliche und jetzt vor allem wichtige Dinge wie eine gute Maske leisten kann und damit auch immer wieder konfrontiert zu werden, dass man zu wenig Geld hat. Das ist einem natürlich schon sehr unangenehm und macht einen auch wütend.“

Ein Leben mit Hartz-IV bedeutet ein Leben in Armut

In der Stadt Nürnberg gab es im vergangenen Jahr mehr als 2000 Obdachlose. Foto: Johanna Köhler

Die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes steht schon seit längerem in der breiten Öffentlichkeit zunehmend in Kritik. Laut Rinklake sei er jedoch bestenfalls so hoch, um damit auszukommen. „Bei der Errechnung des Regelsatzes wird versucht, sich an den tatsächlichen Ausgaben der Gesamtbevölkerung zu orientieren. Natürlich kann darüber diskutiert werden, ob es nicht ein bisschen mehr sein dürfte, letztendlich ist der Regelsatz aber aus Sicht des Gesetzgebers insofern auskömmlich, dass damit ein menschenwürdiges Leben möglich ist.“

Doch stimmt das wirklich? In erster Linie stellt der Regelsatz sicher, dass niemand verhungern muss und jeder ein Dach über dem Kopf hat. Für kulturelle und soziale Teilhabe an der Gesellschaft bleibt am Ende jedoch kaum noch Geld übrig. Kino, Theater, Konzert- oder Restaurantbesuche. Kleine Geschenke zu Weihnachten oder Geburtstagen. All das können sich die meisten Hartz-IV Empfänger nicht leisten. Selbst für Bildung ist kaum Geld da, denn dafür stehen ihnen monatlich genau 1,60 Euro zur Verfügung.

Daher wird der Regelsatz von vielen Sozialverbänden als „menschenunwürdig“ bezeichnet. Dem stimmt Müller zu: „Ein Leben mit Hartz-IV bedeutet gleichzeitig ein Leben in Armut und Ausgrenzung und das ist für mich nicht menschenwürdig. Für kulturelle Aktivitäten ist sowieso kein Geld da, aber selbst für Lebensmittel, zumindest für gesunde Lebensmittel reicht es kaum. Für Verpflegung stehen mir täglich gerade einmal 4,85 Euro zu. Gesund Kochen wird da auf Dauer natürlich viel zu teuer, sodass ich wiederum mehr mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen habe, weil da Folgeerkrankungen vorprogrammiert sind.“

Armut bedeutet also weit mehr als nur über wenig Geld zu verfügen. Armut zeigt sich in verschiedenen Lebenslagen, sie reicht von materieller Armut über kulturelle und soziale Ungleichheiten hin zu gesundheitlichen Benachteiligungen. Macht zwar die finanzielle Problematik für arme Menschen die meisten Schwierigkeiten, bedeutet arm zu sein für Müller aber auch mehr als nur ein Mangel an materiellen Dingen. Mit der Armut kommen auch soziale Herausforderungen einher. „Ich finde, dass die Gesellschaft einen auch ausschließt und man zum Teil auch gleich als asozial abgestempelt wird, bloß weil man arm ist“, sagt Müller. „Das ist mir selbst schon öfters passiert. Armut erschwert einem das Leben einfach in vielerlei Hinsicht. Das belastet mich natürlich auch psychisch enorm und zieht mich oft sehr runter.“

Maßnahmen der Stadt Nürnberg gegen Armut

Kinderarmut ist ein besonders großes Problem. In Nürnberg lebt fast jedes fünfte Kind in Armut. Foto: Johanna Köhler

Um der ärmeren Bevölkerung in dieser prekären Situation zu helfen und die Armutsfolgen zu bekämpfen, kommen die Kommunen ins Spiel. So auch die Stadt Nürnberg. Durch verschiedene Maßnahmen versucht Nürnberg die Lebenssituation ärmerer Menschen zu verbessern und ihnen Bildungs- und Teilhabechancen zu ermöglichen. Der „Nürnberger-Pass“ bietet zum Beispiel materielle Vergünstigungen im Alltag und Bildungsangebote. Das Arbeitsprogramm „Armen Kindern Zukunft geben“ bekämpft die Kinderarmut in Nürnberg.

Aber auch das Nürnberger „Netz gegen Armut“ versucht armen Menschen zu helfen, indem es unter anderem die Öffentlichkeit im Umgang mit Armut sensibilisieren möchte. Trotz vieler Maßnahmen bleibt die Armutsproblematik aber weiterhin bestehen. Kann Armut also wirklich jemals vollständig bekämpft und beendet werden? Das kann Thomas Rinklake beantworten: „Bei relativer Armut, wie wir es in Deutschland haben, ist es per Definition so, dass diese nie verschwinden wird, da sich der Lebensstandard der Gesamtgesellschaft immer weiterentwickelt und sich stetig erhöht. Da sich auch die Gesellschaft und soziale Probleme permanent neu reproduzieren, ändern sich somit auch die Probleme und die Mittel zur Bekämpfung. Daher ist die Bekämpfung von relativer Armut und Ungleichheiten nie richtig erreicht, es ist immer zu erringen und zu erkämpfen.“ Können zwar Ungleichheiten nie komplett beseitigt werden, ist Rinklake dennoch optimistisch, dass es gelingen könne Ungleichheitsprobleme abzumildern und Ungleichheiten zu verringern und es Verbesserungen geben werde.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist Bedürftigen besonderes eines wichtig. Akzeptanz. So erhofft sich Müller vor allem einen offeneren Umgang mit dem Thema Armut. „Ich wünsche mir, dass Menschen, die nicht in Armut leben, einen nicht sofort verurteilen und abstempeln, bloß weil man arm ist, sondern dass sie erst einmal hinter die Fassade schauen, da man ja aus verschiedensten Gründen in Armut gerutscht sein kann. Wir sind alle nur Menschen und verdienen es, genauso akzeptiert und anerkannt zu werden wie alle anderen.“

 

 

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