Das Handwerk aus der Zukunft

Mit gekrümmtem Rücken steht er über die Welle gebeugt, die er gerade in das Backenfutter gespannt hat. Die unhandliche Metallstange ist bereits mit einer Schicht Flugrost überzogen. Gedankenverloren fährt er mit dem Finger über die raue, rote Oberfläche

Xaver Merwinger ist Metallarbeiter in dritter Generation. Sein Großvater hatte noch als Knecht in einer Dorfschmiede geschuftet, mit dem Traum eines Tages den Betrieb übernehmen zu können. Dazu kam es nie. Merwingers Vater sah sich in den 1850er-Jahren gezwungen, in die Stadt zu ziehen, auf dem Land gab es einfach keine Arbeit, die seine Familie ernährt hätte.

Xaver legt seine rechte Hand auf das Backenfutter und dreht es langsam, um mit der Linken den Schalthebel des Getriebes bedienen zu können. Das klobige Stück Metall hat einen Durchmesser von fünfzig Millimetern, ist etwa so lang wie Xavers Unterarm und wiegt gut und gerne dreißig Pfund. Er muss dabei nicht überlegen, die Schnittdaten hat er im Kopf: 130 Umdrehungen die Minute und ein Vorschub von 0,25 Millimetern. Mit der Handkurbel am Schlosskasten bringt er das Werkzeug in Position, etwa eine Handbreit vor das drehende Werkstück. Durch das Umlegen eines großen Hebels am linken Ende der Maschine greift der Riementrieb der Transmission, welche die meisten Maschinen in der großen Halle antreibt. Mit einem lauten Quietschen kommt Bewegung in die Maschine und das rostige Stück Metall beginnt zu rotieren. Er betätigt den Vorschub und das Werkzeug fährt langsam auf den rotierenden Stahl zu.

Blick ins Maschinenbett der Drehbank. Foto: Felix Streidl

Heute ist ein bewölkter Tag und am Vormittag hatte leichter Regen eingesetzt. Die Maisonne hat keine Chance gegen die dichte Wolkendecke. So ist die Maschinenhalle der Nürnberger Velozipedfabrik Hercules in ein kühles Dämmerlicht getaucht. Es ist laut und alles scheint von einer feinen Schicht aus Öl bedeckt zu sein. Auf die Wände und die Deckenpfeiler hat sich eine klamme Decke aus tiefschwarzem Metallstaub gelegt. Der harte Hallenboden ist von Rissen durchzogen und aus jeder zweiten Maschine tropft langsam Öl, das sich in kleinen Pfützen sammelt. Mit seinem Arbeitgeber hat sich Xaver nie besonders identifiziert. Im Jahr 1915 ist er einer von 300 Arbeitern und für die Wartung und Instandhaltung der Maschinen zuständig. Dennoch ist er dankbar für die Anstellung. Zuhause ist das Dritte Kind unterwegs und die Wohnung wird wohl bald zu klein für die wachsende Familie.

Harte Arbeit

Als das Werkzeug in das Metall eintaucht, kneift er die Augen zusammen. Xaver hat den Drehmeißel vor der Arbeit geschliffen und so schneidet dieser nun einen dicken Fließspan von dem runden Stück Metall, der sich wie eine silbrige Locke weiter Richtung Boden kräuselt. Durch die Reibung erhitzt sich die Schneide des Meißels stark. Damit sie nicht zu schnell stumpf wird, gibt Xaver einen dünnen Strahl flüssigen Kühlschmierstoff auf den Ursprung des Spans. Die Schneide ist mittlerweile mehrere Hundert Grad heiß und ein Teil des Kühlmittels verdunstet sofort, oder tanzt wie kleine, milchige Glasperlen auf der Werkzeugschneide. Eine kleine Wolke des verdunstenden Öl-Wassergemischs steigt von der Maschine auf und er muss sich unwillkürlich abwenden. Er verzieht das Gesicht. Der ätzende Dampf brennt in Augen, Hals und Nase. Er beginnt zu husten und seine Umgebung verschwimmt.

Während seiner Lehre und den ersten Jahren hatte er nie Probleme dieser Art gekannt. „De Merwinger Bu san hadd im nehmen“ hatte man in seinem fränkischen Heimatdorf immer über die Familie gesagt. Und darauf war er stolz gewesen. Wenn er nun an dem Büro des Schichtleiters vorbeiging und sein Spiegelbild in der Verglasung sah, meinte er, seinen eigenen Vater zu sehen. Der hatte auch als Dreher gearbeitet. Ein harter Hund, der Tag und Nacht geschuftet hatte und Milde weder für sich noch sein Umfeld duldetet. Doch die Jahrzehnte harter Arbeit hatten seinen Vater ausgelaugt, bis er kaum noch aufrecht stehen oder laufen konnte. Wenn Xaver an sich herabblickt, bemerkt er zunächst die fleckigen Hände. Der häufige Kontakt mit Öl und Metallstaub hatten der Haut an seinen Händen stark zugesetzt, sodass sie häufig aufquoll, und sich bis zu den Unterarmen schälte. Sein Sehvermögen schien mit jeder Lohntüte, die er heimbrachte, weiter zu schwinden. Das dämmrige Licht, bei dem er seine Arbeit verrichtete, ermüdete seine Augen immer stärker und die beißenden Wolken verdampfenden Kühlschmierstoffs taten ihr übriges. Trotz seiner jahrelangen Erfahrung schafft er es in letzter Zeit immer häufiger nicht, maßgenau zu arbeiten. Egal wie sehr er sich bemüht und angestrengt die Augen zusammenkneift – über die Skalierung der Handräder seiner Drehbank legt sich ein immer dichter werdender Schleier. Seine größte Sorge war allerdings das stärker werdende Husten, welches ihn immer häufiger plagte. In regelrechten Attacken überkam es ihn und seine brennenden Lungenflügel verkrampfte sich in immer ausgedehnteren Anfällen. Er war jetzt erst Mitte dreißig. Wie lang würde er das noch durchhalten?

 

Historischer Riementrieb kombiniert mit modernem Elektromotor. Foto: Felix Streidl

„Rumms“ – ein gewaltiger Schlag von Metall auf Metall reißt Xaver aus seinen Gedanken. „Klatsch“- der nächste laute Schlag. Er war von seinem Hustenanfall so stark abgelenkt gewesen, dass er den Vorschub des Schlosskastens nicht rechtzeitig unterbrochen hatte. Der war nun ungebremst am Werkstück entlanggefahren, bis er mit dem rotierenden Backenfutter zusammenstieß. Das hatte zur Folge, dass der lederne Transmissionsriemen von der Antriebswelle an der Decke gesprungen und auf die Werkbank neben seinem Arbeitsplatz geschlagen hatte. Wie vom Blitz getroffen steht er da – Schockstarre. Mit einem ähnlich lauten Krachen fliegt die Tür zudem verglasten Büro in der Ecke der Halle auf und der Schichtleiter kommt mit hochrotem Kopf auf ihn zugelaufen. „Merwinger, sind Sie wahnsinnig geworden? Wie konnte das passieren?“. Obwohl ihn der Schichtleiter aus voller Kehle anbrüllt, nimmt Xaver ihn kaum war. Er steht immer noch wie angewurzelt neben der Maschine und starrt auf die pulsierende Ader auf der Stirn des Mannes, der ihn anbrüllt. „Haben Sie gesoffen? “. Die Stimme des Vorgesetzten beginnt sich zu überschlagen. „Verlassen Sie das Betriebsgelände, hier gibt es keine Arbeit mehr für einen, der nichts kann.“

 

Was nun?

Jetzt steht er am Rand der Fürther Straße, vor dem schmiedeeisernen Tor zur Fabrik. Wie er dort hingekommen ist, weiß er selbst nicht genau. Stumm lässt er sich nach hinten, gegen einen der gemauerten Torpfeiler kippen und sinkt auf die Straße. Der sandige Boden ist feucht vom anhaltenden Nieselregen. Xaver ist das egal. Er vergräbt das Gesicht in den Händen. Was soll er jetzt bloß tun? Wie soll er das seiner Frau erklären? Wie eine Familie ernähren?

Sein linker Fuß steht in einer Pfütze. Xaver beobachtet, wie das alte, rissige Leder langsam aufweicht. Plötzlich steht seinem alten Paar ein neues gegenüber. Schwarz und auf Hochglanz poliert. Langsam hebt er den Kopf und blickt dem Mann ins Gesicht, der in den Schuhen steht. Ein stattlicher Mann, gut gekleidet, hält ihm seine ausgestreckte Hand hin. Xaver ergreift sie und lässt sich aufhelfen. „Guten Tag junger Mann. Warum sitzen Sie denn hier auf der Straße? Sie sind Dreher?“ Freundlich lächelt ihn der Fremde an und deutet auf den Steckschlüssel für das Backenfutter, den Xaver immer noch in der Hand hält. „Ja, das heißt, das war ich.“ Xaver muss sich räuspern. Das freundliche Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers wird zu einem breiten Grinsen. „Wenn das so ist, habe ich ein Angebot für Sie.“ Der Fremde dreht sich langsam auf dem Absatz und bedeutet Xaver mit einem Kopfnicken ihm zu folgen. „Mein Name ist Schneider und ich suche erfahrene Arbeiter für mein Unternehmen.“

An der historischen Drehbank wurde eine moderne CN-Steuerung der Firma Siemens nachgerüstet. Foto: Felix Streidl

Ein Neuanfang

Wenig später steht Xaver in Herrn Schneiders Maschinenhalle. Seit er das Tor zu seiner neue Arbeitsstelle durchschritten hat, wähnt er sich in einer anderen Welt. Alles ist anders als in der alten Fabrik – und doch so merkwürdig vertraut. Hier ist es nicht dunkel. Lampen mit riesigen Schirmen leuchten jede Ecke der Werkstatt aus. Der Boden ist sauber und fest. Weiße Linien markieren genau, wo jede Maschine und jeder Arbeiter ihren Platz haben. Die Maschinen sehen sonderbar aus. Wie kleine Hütten, aus denen vertraute Geräusche klingen. An den Hütten hängen blinkende Rahmen mit leuchtender Schrift.

„Wie lange hast du als Dreher gearbeitet?“, will Schneider wissen. „Fünfzehn Jahre und ich danke Ihnen für das Angebot, aber die Zeiten sind wohl vorbei. Meine Augen werden immer schlechter und bald kann ich auf der Skalierung gar nichts mehr erkennen.“ Schneider zieht eine Augenbraue hoch: „Was ich brauche, ist Ihre Erfahrung und Ihr Gefühl. Alles Weitere werden meine Maschinen übernehmen. Folgen Sie mir, ich werde es Ihnen zeigen.“

Einige Monate später steht Xaver an seinem neuen Arbeitsplatz. Sein neuer Chef hatte nicht gelogen. Die Maschinen waren wie aus einer anderen Zeit. In den Hütten, die ihm bei seinem ersten Besuch noch merkwürdig vorgekommen waren, stehen Drehbänke wie er sie kennt. Um sie herum hatte Schneider gebaut, was Xaver für nicht weniger als ein Wunder hielt. Eine zweite Maschine, welche die Drehbank bedient. CNC, Computerized-Numerical-Control, nannte Schneider seine Wundermaschine, welche Xavers Aufgaben übernimmt.

Xaver dreht an den Reglern des CNC-Bedienfeldes. Höhere Drehzahl bei geringerem Vorschub. Der Drehmeißel fährt die von ihm programmierte Kontur des Werkstücks ein letztes Mal im Schlichtgang ab. Als das Werkzeug automatisch in Ruheposition gefahren und die Maschine still geworden ist, öffnet er bedächtig die Schutztüren. Zufriedenen lächelnd fährt er mit dem Finger behutsam über die spiegelglatte Oberfläche des Werkstücks.

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