Medizingerät auf See

Kapitän Alfred Stein stand an einem Donnerstag im Jahr 1968 mit erstarrtem Blick am Bug seines mehr als 300 Meter langen Öl-Tankers. Sein schulterlanges, braunes Haar wehte, von der salzigen Seeluft rau aufgewirbelt, wild vor seinen dunklen Augen umher. In seinem Kopf war ein Gedanke gefangen: „Es wiederholt sich, hier und jetzt!“

Ein flaues Gefühl in seiner Magengrube hatte ihn von seinem Mittagsschlaf geweckt und an Deck seines stolzen Schiffes getrieben. Der wetterfeste Seemann hat in seinen 44 Jahren auf dem Wasser zwar bereits schlimmen Stürmen ins Auge geblickt, doch diese Situation war anders. Vornehmlich deswegen, weil es weit und breit keinen Sturm zu erspähen gab. Der Himmel war zwar bedeckt und es wehte ihm auch eine ordentliche Brise um die Knubbelnase, aber das Wasser war ruhig. Zu ruhig für seinen Geschmack.

30 Meter stand er über der Wasseroberfläche, seine Kapitänsmütze mit der rechten Hand dicht an sein Herz gedrückt. Seine linke Hand umklammerte die Reling so stark, als stünde er auf der sinkenden Titanic. Auch wenn es gerade erst begonnen hatte, erkannte er diese unheimliche, schier übernatürliche Gefahr sofort wieder. Zu einprägsam war seine letzte Konfrontation mit diesem Mysterium der Natur. Aber diesmal war er vorbereitet und hatte seine eigene Geheimwaffe zur Aufklärung dieses Mysteriums in der Hinterhand.

Totes Wasser

Vermutlich war es bereits zu spät, um den Kräften Poseidons zu entkommen. Dennoch riss sich Kapitän Stein aus seinen Gedanken und von der Reling los. So schnell ihn seine alten Knie ließen, eilte er auf die Kommandobrücke. Als er die schwere Stahltür mit letzter Kraft erschöpft aufstieß, blickte ihm seine Crew samt diensthabendem Offizier Benjamin Müller fragend in die Augen. Kapitän Stein war klar, dass sie noch nichts von dem, was ihnen bevorstand, mitbekommen haben.

Die Landhaie waren schlichtweg zu jung und unerfahren. „Wir befinden uns in Totem Wasser!“, sagte Kapitän Stein keuchend. „Totem was?“, fragte Müller. „Wasser, Totem Wasser!“, wiederholte Stein schnell. Langsam kam er wieder zu Atem. „Ab jetzt keine Kurskorrekturen mehr. Volle fahrt voraus. Wir brauchen alles an Geschwindigkeit, was wir bekommen können“, kommandierte er und fügte eilig hinzu: „Und sagen sie schleunigst der Wissenschaftlerin Bescheid.“ „Aye, aye, Kapitän“, antwortete die Brückenbesatzung wie aus einem Mund.

Jetzt bloß keine Zeit verlieren

Keine zwei Minuten später stand Christa Kaiser vor ihm. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass sie mindestens fünf Stockwerke ohne Aufzug zurücklegen musste. Eher unprofessionell salutierte sie vor dem Kapitän mit den Worten: „Zu Ihren Diensten!“ „Ja, ja schon gut. Wir haben keine Zeit. Als Sie in Hamburg bei uns an Bord kamen, haben Sie etwas von einem Messgerät gesagt, das Sie dabeihaben“, sagte Kapitän Stein aufgeregt und fügte an: „Nehmen Sie sich zwei meiner Matrosen, gehen Sie ihre Messgeräte hohlen und treffen Sie mich im Maschinenraum.“

Ein Hellige Helco-Scriptor He-86. Die Fritz Hellige & Co GmbH wurde 1885 in Freiburg gegründet. Bis der Name Hellige im Jahr 2001 komplett verschwand, wurde die Firma vier mal aufgekauft und wieder veräußert. Foto: Robert Conrad

Ohne zu zögern drehte sich die 28-jährige Messtechnikerin um und spurtete los. Auf ihrem Weg zurück zu ihrer Kajüte klopfte sie eifrig an die Türen zweier Matrosen und rief ihnen jeweils zu: „Los jetzt, ich brauch euch beim Tragen. Die Kästen sind echt schwer, und der Kapitän will sie sofort im Maschinenraum haben.“ Da die Matrosen dem Kapitän und seinen Plänen nicht im Weg stehen wollten, ließen sie alles stehen und liegen, öffneten ihre Türen sofort und eilten Christa hinterher.

Zwei Kästen die helfen können

Auf dem Weg von Christas Kabine zu dem Maschinenraum mussten die Matrosen feststellen, dass ihnen die junge Wissenschaftlerin kein Seemannsgarn erzählt hat, als sie sagte, die Kästen seien echt schwer. „Was ist da eigentlich drin, Baggersteine?“, fragte einer der beiden Matrosen. „Ein Helco-Scriptor mit zwei Eingangsverstärkereinheiten“, antwortete Christa.„Und was soll das sein?“, wollte der andere von ihr wissen. „Das erklär ich euch, wenn wir beim Kapitän im Maschinenraum sind, denn dort hinzukommen hat jetzt Priorität“, sagte sie hastig.

Zwei Stockwerke weiter im Schiffsinneren kündigte den drei gehetzten endlich ein dumpfes Summen die Nähe des Maschinenraums, und somit ein Ende der Schlepperei, an. Als sie den öligen und schwülwarmen Raum betraten, war der Kapitän bereits vor Ort. Er kniete, nicht weit vom Eingang entfernt am Boden und wischte einen kleinen Ölfleck vom Boden. Mit einer Handbewegung rief er die Drei zu sich. „Was genau kann ihr Zauberkasten denn jetzt?“, fragte Kapitän Stein hoffnungsvoll.

Medizintechnik auf Hoher See

„Das hier ist ein Vier-Kanal-Hitzeschreiber“, erklärte Christa und fuhr fort: „Also ein Gerät, mit dem auf vier voneinander unabhängigen Kanälen vier separate Messdaten erfasst werden können. Und ein Hitzeschreiber ist es deswegen, weil eine heiße Nadel die Signale auf einem Thermopapier protokolliert. Das ist die neueste Medizintechnik der Firma Hellige“, sagte Christa fröhlich. Noch nie ist sie mit ihrer Erklärung so weit gekommen, ohne unterbrochen zu werden. „Das müsste auch eure Fragen beantwortet haben“, ergänzte Sie mit einem kurzen Blick in Richtung Matrosen.

Eine genaue Datierung ist zwar nicht möglich, der Produktionszeitpunkt dieses Exemplares lässt sich aber anhand von Änderungen des Firmennamens und Patentanmeldungen auf circa 1960 datieren. Foto: Robert Conrad

Die beiden jungen Seemänner waren von diesem, für ihre Verhältnisse, höchst wissenschaftlichen Vortrag verdutzt, und auch für den Kapitän enthielt Christas kleiner Monolog nicht genügend nautische Begriffe, um Sinn zu ergeben. Langsam und nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf. „Hören Sie, ich habe fast nichts verstanden“, sagte er grummelig und brummte weiter: „Bitte schließen Sie das Ding einfach an den Motor, die Abtriebswelle und die Steuerkette an. Ich will später sehen können, dass diese Einheiten genau so funktioniert haben, wie sie es sollten.“

Ein Herzsensor am Dieselmotor

Christa quittierte den Wunsch des Kapitäns mit einem für seinen Geschmack etwas zu schrillen „Aye, aye, Kapitän“, und machte sich eifrig ans Werk. Mit Hilfe der Matrosen hievte sie zuerst den Helco-Scriptor mitsamt seinen zwei Eingangsverstärkern, je einer für zwei Kanäle, aus den Transportboxen. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass sie mit diesem Gerät zu tun hatte. Direkt nach ihrer Ausbildung zur Messtechnikerin hat sie regelmäßig medizinische Versuche an Tierherzen mit diesem Gerät überwacht und protokolliert.

Entsprechend schnell waren die hochsensiblen Sensoren auf den vom Kapitän gewünschten Einheiten angebracht. Je ein Kabel verbanden nun die vier Sensoren mit den Eingangsverstärkern, die Christa links und rechts neben dem Helco-Scriptor aufgestellt hatte. Die Verstärker waren wiederum mit je einem Kabel mit dem Vier-Kanal-Hitzeschreiber verbunden. Zuletzt steckte Christa noch den Netzstecker in eine Steckdose, die sie neben der Eingangstür erspähte. Mit geübten Handgriffen schaltete sie das Messgerät an.

Sofort fingen die vier Nadeln an, über das Papier zu zucken. Mit einem weiteren Handgriff aktivierte sie den Papiervorschub. Nur kurze Zeit später spitzte ein länglicher Streifen Papier aus dem Präzisionsgerät hervor. Darauf war zwar noch nichts zu erkennen, aber mit fortschreitender Zeit wurde immer mehr Papier sichtbar, bis endlich die ersten Messkurven zu sehen waren. Zumindest für Christa waren es Messkurven. Für Kapitän Stein waren es eher Wellenlinien. „Was soll uns das denn sagen?“, fragte er leicht verzweifelt.

Die Papirvorschubgeschwindigkeit war einstellbar von 1 mm/sec bis 100 mm/sec. Foto: Robert Conrad

„Natürlich können wir keine Motordrehzahlen oder Ähnliches festhalten, aber alle Bewegungen in unseren untersuchten Geräten erzeugen Schwingungen. Je stärker sich etwas bewegt, desto stärker ist der Ausschlag. Hier können wir also zum Beispiel sehen, dass sich der Motor wohl sehr schnell bewegt, die Steuerkette wird aber dagegen gar nicht verwendet“, sagte Christa zu Kapitän Stein. „Nun klären Sie mich doch mal bitte auf, warum wir hier den Motor beobachten. Er läuft doch einwandfrei“, fügte Christa hinzu. „Das sollte man meinen“, erwiderte Kapitän Stein.

 

Poseidons Zauber

„Alle Mann an Deck! Ihr werdet Zeuge von Poseidons Zauber!“, rief Kapitän Stein dröhnend in die Gegensprechanlage des Maschinenraums. Zu Christa und den beiden immer noch ratlosen Matrosen sagte er: „Mir nach, gleich gibt’s was zu sehen, da fliegen euch die Schwimmflügel weg.“ Gemeinsam eilten sie so schnell es ging an Deck. An der frischen Luft angekommen, fiel Christa und den Matrosen zunächst nichts Ungewöhnliches auf.

Als der erste Offizier Müller allerdings auf Kapitän Stein zu gerannt kam und dabei laut rief: „Beim Klabautermann! Kapitän, wir werden langsamer!“, fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen. Tatsächlich schien eine unsichtbare Kraft das Schiff, wie von Geisterhand, auszubremsen. Zuerst langsam, dann immer zügiger nahm die Geschwindigkeit des 200.000 Tonnen schweren Tankers ab. Nach weniger als fünf Minuten stand das Schiff still im Wasser. Ein Blick über die Reling am Heck des Schiffs verriet aber: Die Motoren liefen sehr wohl noch mit voller Kraft. Das aufgewirbelte Wasser log nicht.

Schwarz auf Weiß

Nach ein paar Minuten setzte sich das Schiff mitsamt einer erstaunten und leicht verschreckten Besatzung an Bord wieder in Bewegung – genauso selbstständig wie es zum Stehen kam. Für Christa war dies das Signal, die Aufzeichnung zu stoppen. Als sie dem Kapitän das mittlerweile lange Blatt Papier mit den vier Messkurven vorlegte, sagte sie: „Sehen Sie Kapitän, Sie hatten recht. Auch die Aufzeichnungen des Maschinenraums zeigen, dass die Motoren auf voller Leistung liefen. Von Anfang bis zum Ende.“

Kapitän Stein war glücklich. „Endlich habe ich den Beweis. Schwarz auf weiß. Niemand hat mir geglaubt, als es das letzte Mal passiert ist“, sagte er lauthals lachend. „Wissen Sie, was das Beste ist?“, fragte Christa. „Nein, was denn?“, entgegnete Kapitän Stein. „Die Aufzeichnung mit einem Hitzeschreiber, wie es der Helco-Scriptor einer ist, erlaubt es die Messaufzeichnungen lange zu archivieren und aufgrund der tollen Kontraste auch einfach zu Fotokopieren.“ „Noch besser!“, jauchzte Kapitän Alfred Stein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert