Eine neue alte Liebe

„Autsch!“, flucht Karl-Heinz verärgert. Er fasst sich an den linken Fuß und hüpft dabei auf dem rechten Bein auf und ab. Beim Ausräumen des Regals auf dem Dachboden des alten Bauernhauses seiner Eltern, ist ihm ein alter und staubbedeckter Umzugskarton auf den großen Zeh gefallen.

Zylinderförmige Metallkassetten kullern aus dem Karton und verteilen sich kreuz und quer über den gesamten Holzboden. „Was ist das denn?“, wundert sich der 57-Jährige. Behutsam öffnet er eine der Kassetten: Es ist ein altes, fein säuberlich aufgerolltes Tonband. „Die habe ich ja komplett vergessen“, entfährt es ihm, während er die anderen Dosen einsammelt.

Er erinnert sich an das Tonbandgerät, das ihm sein kürzlich verstorbener Vater 1975 zu seinem 13. Geburtstag geschenkt hat. Es war zwar defekt, aber die beiden konnten es gemeinsam reparieren. Es war ein Tonbandkoffer für den Heimgebrauch. Karl-Heinz kann sich noch ganz genau an die Worte seines Vaters Johann erinnern: „Pass ja gut darauf auf, mein Junge. Das ist ein TK 747 Hi-Fi von Grundig. Grundig – das bedeutet Qualität. Wenn wir es schaffen, es wieder in Betrieb zu nehmen, wirst du davon begeistert sein, was das Teil alles kann.“

Eine bleibende Erinnerung

Reparaturen am TK 747 Foto: Teresa Kraus

Und das war er. Neben Synchroplay, Echoeffekten, Synchroner Diavertonung und Film-Nachvertonung begeisterte sich der 13-jährige „Charly“ vor allem für die Funktion Multiplay. Hierbei konnten einer Aufnahme mehrere andere Aufnahmen beigemischt werden. Das Gerät, samt der zahlreichen Funktionen, war dementsprechend an Hi-Fi-Hörer gerichtet, die auch tricksen wollten. Sein Vater half ihm damals bei seiner ersten Aufzeichnung. Das war im Februar 1975, als die britische Rockband Status Quo in der MTV-Grundighalle in Fürth spielte. Bayern 3 übertrug das Konzert damals im Radio.

Nun packt ihn die Neugier noch mehr: Er will diese Tonbandaufnahmen unbedingt hören. Doch er hat keinen Schimmer, wo sich das Abspielgerät befindet. Fiebrig durchforstet er die restlichen Kisten auf dem Dachboden, wird aber nicht fündig. „Wo steckt das Teil nur?“, grübelt Karl-Heinz.
Ein paar Stunden später kommt ihm die Idee: Marianne, die jüngste seiner drei Schwestern, hatte schon immer ein Auge auf den TK 747 geworfen. Sofort ruft Karl-Heinz sie an.
Marianne erzählt lachend: „Na klar weiß ich, wo er steckt. Nachdem du ausgezogen bist, habe ich ihn mir gekrallt. Er steht bei mir im Keller.“ Erleichtert legt er auf.

Ernüchterung

Gleich am nächsten Morgen fährt Karl-Heinz zu seiner Schwester. Zögerlich und mit betretener Miene öffnet Marianne die Türe. Der euphorische Karl-Heinz merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Er schiebt seine Schwester beiseite und geht zügig in den Keller. Nun wird ihm klar, was faul ist. Ernüchtert blickt er auf den Tonbandkoffer. Er ist stark ramponiert und deshalb kaum wieder zu erkennen. Es fehlen unter anderem die komplette Abdeckung, ein Teil des Gehäuses, ein Lautsprecher und der Großteil der Transistoren und Steckplatinen.
„Das ist ja wohl ein schlechter Witz“, ist das Einzige, was er matt von sich gibt. Er lässt Marianne, die ihm in den Keller gefolgt ist, stehen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verlässt er schnurstracks das Haus, steigt ihn seinen schwarzen Audi A4 und macht sich auf den Heimweg.

Als der zweifache Familienvater nach Hause kommt, wartet sein 14-jähriger Sohn Max bereits auf ihn. „Hast du es?“, fragt Max mit einem schelmischen Grinsen. Als sein Vater nicht antwortet, hakt er nach: „Was ist los?“ Karl-Heinz zischt erzürnt: „Nichts – es ist kaputt. Vergessen wir das Ganze einfach!“ Der 14-jährige Blondschopf lässt sich aber nicht so leicht abspeisen: „So kaputt, dass es nicht repariert werden kann?“ Daran hatte Karl-Heinz noch gar nicht gedacht. „Hast du Lust, es zu versuchen?“, erkundigt er sich bei seinem Sohn, der ohne langes Überlegen mit einem leichten Schulterzucken entgegnet: „Ein Versuch ist es doch Wert“. Der Plan war nun geschmiedet. Die beiden werden versuchen, den TK 747 gemeinsam wieder instand zu setzen.

Die überraschende Kehrtwende

Genau in diesem Moment klingelt es an der Haustür. Es ist Marianne. Sie steht mit dem Tonbandkoffer in den Armen vor der Tür. Karl-Heinz nimmt ihn ihr ab und stellt ihn behutsam auf die Holzkommode im Flur. Anschließend drückt er seine Schwester fest an sich und flüstert ihr liebevoll ins Ohr: „Danke, du bist die Beste!“

Karl-Heinz Kraus Foto: Teresa Kraus

Zwei Tage später beginnen Vater und Sohn damit, ihren Plan umzusetzen. „Wie funktioniert das Aufnehmen eigentlich?“, will Max wissen. Karl-Heinz freut sich über das Interesse seines Sohnes und legt los: „Siehst du die zwei runden Teller hier? Links wird die Abwickel- und rechts die Aufwickelspule aufgelegt. Zwischen den Spulen wird das Tonband entlang der Tonköpfe geführt. Das Tonband ist mit magnetisierbaren Stoffen, wie zum Beispiel Eisenoxid, beschichtet. Die Tonköpfe bestehen aus magnetischen Kernen, die von einer Spule umwickelt sind und einen kleinen Spalt haben. Nimmt man mit einem Mikrofon auf, ist dieses über einen Verstärker mit den Tonköpfen verbunden. Das akustische Signal, also Musik oder eine Stimme, wird durch das Mikro in elektrische Schwingungen umgewandelt, anschließend verstärkt und mithilfe der Spule in Magnetfeldschwankungen im Eisenkern des Magnetkopfes umgewandelt. Beim Aufnehmen drückt der Aufnahmekopf dem Band eine Magnetisierung auf. Diese Magnetisierung wird später wieder durch den Wiedergabeknopf in ein akustisches Signal umgewandelt. Und dann, ..“

Eine neue Herausforderung

„Stopp!“, unterbricht ihn Max, „Ich verstehe nur Bahnhof! Das musst du mir alles noch einmal in Ruhe erklären. Welches der Bauteile hier ist denn solch ein Tonkopf?“, fragt der Junge. Er steht ratlos und sichtlich überfordert vor dem Tonbandgerät und kratzt sich am Kopf.
Die Tonköpfe gehören zu den beschädigten Bauteilen des Tonbandgerätes. Sie sind locker, somit kann Karl-Heinz sie ohne Probleme lösen und Max reichen.
Er äußert sein Bedenken: „Ich hoffe nur, wir finden passende Ersatztonköpfe, sonst ist die ganze Arbeit umsonst.“

Tonköpfe TK 747 Foto: Teresa Kraus

Seine Befürchtungen werden in den darauffolgenden Tagen bestätigt. Selbst große Technikfachgeschäfte, wie beispielsweise Media Markt oder Saturn, führen die benötigten Ersatzteile schon lange nicht mehr und auch Max wird bei seiner ausgiebigen Internetrecherche nicht fündig.

Karl-Heinz wagt einen letzten Versuch in seinem Elternhaus – doch auch diese Bemühung ist vergeblich. Niedergeschmettert läuft er nach Hause. Gedankenverloren wirft er dabei einen Blick in eine Gasse, die ihm zuvor noch nie aufgefallen ist. Dabei erregt ein kleines unscheinbares Geschäft seine Aufmerksamkeit. Die Außenfassade ist heruntergekommen. Über der Eingangstüre ist ein kaum leserlicher Schriftzug angebracht: „Elektrohandel Gamlaheter“. Karl-Heinz tritt an das leicht beschlagene Ladenfenster und schaut hinein. An den Wänden des kleinen Raumes stehen vollgestopfte Regale, die bis zur Decke reichen. Auf den Regalen entdeckt er alte Radios, Kassettenrekorder und Fernseher. Fasziniert lässt er seinen Blick über die technologischen Sammlerstücke schweifen.

Unverhofft kommt oft

Plötzlich geht die Ladentüre laut knarrend auf. Eine Glocke läutet und ein älterer Mann mit weißem Bart und Haar streckt seinen Kopf hinaus. „Kann ich Ihnen helfen?“, brummelt er leicht unfreundlich und mustert den verdattert dreinblickenden Karl-Heinz mit hochgezogenen Augenbrauen. Erschrocken fährt dieser herum und braucht ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Er blickt in das von Falten durchzogene Gesicht des Mannes und fängt zögerlich an: „Guten Abend, wie ich sehe, haben Sie hier ja eine Menge Raritäten, aber ich glaube nicht, dass Sie mir weiterhelfen können. Ich bin gerade dabei mein altes Tonbandgerät, den TK 747 von Grundig, gemeinsam mit meinem Sohn auf Vordermann zu bringen. Uns fehlen nur noch drei Tonköpfe. Aber ich habe das Gefühl, dass sich die Suche als vergeblich herausstellen wird.“ „Sie werden lachen, aber ich bin gerade dabei, meinen alten TK 747 zu reparieren“, erwidert sein Gegenüber lachend: „Mein Name ist Olaf Gamlaheter, kommen Sie doch kurz herein.“

Grundig TK 747 Hi-Fi Foto: Teresa Kraus

Sie gehen gemeinsam in das Hinterzimmer, in dem das Tonbandgerät auf einem alten Echtholztisch steht. „Morgen müsste ich damit fertig sein“, freut sich der Ladenbesitzer und klatscht dabei breit grinsend in die Hände. Schlagartig ändert sich Olafs Stimmung. Sein Blick wird ausdruckslos und es wirkt, als ob der gerade noch so quirlig erscheinende Mann, wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht. Seine Stimme wird leise und brüchig: „Ab Morgen kann ich endlich die alten Aufnahmen meiner Frau anhören. Wissen Sie, sie ist vor zwei Monaten von mir gegangen. Am meisten fehlen mir ihre Stimme und ihr Lachen. Stina hat mir früher immer schwedische Volkslieder vorgesungen. Sie entführte mich zurück in mein Heimatland. Irgendwann bin ich zum Glück auf die Idee gekommen, ihren wunderschönen Gesang aufzuzeichnen.“
Während er erzählte, starrte der alte Mann unentwegt auf das Tonbandgerät. Ruckartig erwacht er aus seiner Trance, schüttelt sich kurz und führt entschuldigend fort: „Huch, das tut mir jetzt aber leid. Nun bin ich vollkommen vom Thema abgekommen. Leider habe ich keine Tonköpfe mehr. Die habe ich gerade eben in dieses Schätzchen eingebaut!“
Karl-Heinz senkt enttäuscht den Kopf und nuschelt wortkarg und abgehackt: „Das tut mir sehr leid. Mein Beileid. Wäre ja auch zu schön gewesen. Es soll einfach nicht sein. Vielen Dank trotzdem!“

Ein gemeinsames Schicksal, das verbindet

Er dreht sich um und will gerade gehen, als ihm Olaf seine runzlige Hand auf die Schulter legt und sagt: „Junger Mann, das sollte nicht heißen, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Verkaufen kann ich das Gerät leider nicht. Dazu hängen viel zu viele Erinnerungen daran!
Aber ich habe das Gefühl, dass Sie in einer ähnlichen Situation stecken, wie ich. Wenn Sie möchten, können Sie gerne jederzeit vorbeikommen und den Tonkoffer benutzen.“
Karl-Heinz ist von Olafs zwischenmenschlicher Feinfühligkeit und seinem Angebot zunächst überrumpelt. Letztendlich nimmt er es jedoch dankend an.

Am darauffolgenden Wochenende besucht er den freundlichen Ladenbesitzer gemeinsam mit seinem Sohn. Max darf das erste Tonband auflegen. Es war der allererste Aufnahmeversuch von Karl-Heinz und seinem Vater. Zunächst ist nur Rauschen und Knacken zu hören. Langsam ertönt leise Rockmusik im Hintergrund bis plötzlich Johanns tiefe Stimme zu hören ist: „Sehr gut Charly, das machst du großartig. Jetzt musst du nur noch diesen Knopf hier drücken!“ Es folgt ein lautes Klacken und die Stimme des Leadsängers von Status Quo hallt in voller Lautstärke in dem kleinen Hinterzimmer von Olaf Gamlaheters Elektrohandel.

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