Ju Jitsu – Die sanfte Kunst der Selbstverteidigung

Mein Gesicht berührt den kalten Boden. Ich versuche mich umzusehen. Bis mir der nächste Schmerz durch die Schulter fährt und ich nicht mehr weiß, in welche Richtung ich mich schmerzfrei bewegen kann.

Ich gebe auf, klopfe mit dem rechten Fuß auf die Matte und darf wieder aufstehen. Vor wenigen Augenblicken war ich der Angreifer, doch jetzt droht mir ein Faustschlag ins Gesicht. Zum Glück nur in Zeitlupentempo. Ich leite die Faust mit der linken Hand nach außen weiter, während die Handkante der rechten Hand im Unterleib des Angreifers einschlägt. Zeitgleich weiche ich ein Stück nach links aus. Mein gleich darauf folgender Schlag zwischen Hals und Schlüsselbein lässt mich den Schläger problemlos zu Boden führen.

Sensei Ruhnau zeigt eine Abwehrtechnik  Foto: Ferdinand Heinrich

Was sich nach einer Situation anhört, in der sich eigentlich niemand wiederfinden möchte, ist eine von vielen Übungen im Ju Jitsu Training von Peter Ruhnau. Der 58-Jährige trainiert die japanische Kampfkunst seit 1986, seit 1992 gibt er sein Wissen auch an andere weiter. Der weiß-rote Gürtel zeichnet den Sensei, also den Lehrer, als Träger des 7. Dan aus.  Sein Dojo, der „Raum zum Üben des Weges“, befindet sich auf dem Gelände der Universität der Bundeswehr München. Aber die Trainingsgruppe könnte gemischter nicht sein. Männer und Frauen, Soldaten, Schüler, Studenten,  Angestellte wie Selbstständige besuchen das Training, bis zu viermal pro Woche. Wie in vielen japanischen Kampfkünsten beginnt das Training mit einer kurzen Begrüßungszeremonie, die auch eine kurze Meditation enthält. Sie soll Gedanken vom Alltag lösen und auf das Training einstimmen. Mit „Mokuso yame!“  und einer Verbeugung beginnt das Training. „Schnappt euch einen Partner“ sagt Ruhnau, bevor er eine Abwehrtechnik demonstriert.

Ein Werkzeugkasten voller Techniken

Ju Jitsu wird zumeist mit „sanfter Kunst“ übersetzt, was schon viel über die Grundsätze verrät: Angriffen nicht mit Kraft zu begegnen, sondern die Energie des Angreifers möglichst umzuleiten.  Dieses Prinzip lässt auch eine effektive Verteidigung gegen körperlich überlegene Gegner zu. Auch bei der Gegenwehr herrschen möglichst sparsame, oft runde (und damit natürliche) Bewegungen vor. Die Kampfkunst bedient sich dabei allen erdenklichen Möglichkeiten: Schläge, Fußtritte, Würfe, Gelenkhebel, Würgegriffe und das Ausnutzen von Nervendruckpunkten und anderen empfindlichen Stellen. „Wie ein großer Werkzeugkasten, du nimmst dir das raus, was du brauchst“, sagt Ralph, einer der vielen Schwarzgurte um Sensei Ruhnau. Auch stumpfe Messer, Holzstöcke und Pistolen aus Hartgummi gehören zum Training. Aber auch Alltagsgegenstände wie Schal, Strick, Regenschirm und Kugelschreiber eignen sich zur Verteidigung. Die Abwehr endet erst dann, wenn der Gegner unter Kontrolle gebracht wurde. In der Regel bedeutet das: im Transportgriff oder in einem Hebel am Boden, weshalb viele Techniken des Ju Jitsu auch seit jeher bei Polizei und Militär genutzt werden.

Kontrolle des Gegners Foto: Ferdinand Heinrich

Die Ursprünge sind, wie bei vielen Kampfkünsten, nur teilweise nachzuvollziehen. Ursprünglich wurden die Techniken innerhalb der Kriegerkaste der Samurai weitergegeben. Jahrhunderte des Krieges sorgten für eine beständige Weiterentwicklung und dieser Einfluss ist noch heute spürbar. Da Samurai oft Rüstungen trugen, wurden Schläge vor allem als Ablenkung oder Schock eingesetzt, um Zeit für die eigentliche Technik, den Wurf, zu gewinnen. Später wurden die Techniken auch im zivilen Umfeld gelehrt. Um 1800 gab es über 1000 Schulen, die sich in technischen Details oder Schwerpunkten voneinander unterschieden. Mit einer zusammenwachsenden Welt beeinflussten sich bald auch Kampfkünste immer mehr, was teilweise zu komplett neuen Stilen führte. In Nordamerika ist Ju Jitsu überwiegend als Brazilian Ju Jitsu bekannt, das mit Fokus auf den Bodenkampf in Brasilien entstand. Aikido und Judo sind weitere bekannte Stile, die mit Ju Jitsu eng verwandt sind.

Kampfkunst oder Kampfsport?

Obwohl die Begriffe oft synonym verwendet werden, gibt es wichtige Unterschiede. Die Übergänge sind dabei natürlich fließend und unterscheiden sich von Verband zu Verband. Kampfsport ist grundsätzlich reglementiert und wettkampforientiert. Daher sind viele Techniken verboten, was zu Einschränkungen im Training führt. Beispiele sind etwa Boxen, Kickboxen, Judo, Taekwondo und Brazilian Ju Jitsu. Auch Karate wird in Deutschland überwiegend als Kampfsport betrieben. Grundsätzlich ist auch Kampfsport für die Selbstverteidigung geeignet, dies hängt aber stark vom Training ab.

Kampfkünste vermitteln neben der Technik auch Philosophie und geistig-moralische Prinzipien. Das oberste Ziel ist die Selbstverteidigung mit allen Mitteln. Weil man sich Ort, Art und Anzahl der Gegner nicht aussuchen kann, umfassen Kampfkünste ein wesentlich breiteres Repertoire an Techniken. Bekannte Kampfkünste sind neben Ju Jitsu das Aikido und das chinesische Wing Chun.

Ein vergleichsweise moderner Trend sind Systeme, die sich von Tradition und Etikette gelöst haben, um möglichst effektive Selbstverteidigung zu lehren. Sie wurden oft für Militär und Polizei entwickelt. Dazu zählt beispielsweise Krav Maga aus Israel oder das russische Systema. Auch Mixed-Martial-Arts kombinieren verschiedene Stile, um einen allumfassenden Fundus an Techniken einzuüben.

Umfassende Prüfungen

Trainiert wird im traditionellen Gi. Die schwere Jacke aus Baumwolle ist aber nicht nur Etikette, mit ihr kann auch ein Zerren oder Festhalten an Ärmel oder Kragen trainiert werden. Der farbige Gürtel (jap. Obi) zeigt dabei die Graduierung an. Schon bei der ersten Prüfung müssen alle Angriffsarten abgewehrt werden, ob Schwitzkasten, Fußtritt, Messerangriff oder am Boden liegend gewürgt werden. Reicht hier zunächst eine Abwehrtechnik pro Angriff, müssen später pro Kategorie zehn oder mehr Techniken beherrscht werden. Darüber hinaus werden auch Theorie, das richtige Fallen und Rollen sowie Grundkenntnisse im Notwehrrecht verlangt.

Graduierungen

Graduierungen wurden erstmals um 1900 von Jigoro Kano, dem Vater des Judo, eingeführt. Heute verwenden vor allem japanische Kampfkünste dieses System aus farbigen Gürteln. Trotz gleicher Stufen sind die Graduierungen schwer vergleichbar, da jeder Verband andere Prüfungen vorgibt. Auch stilübergreifend sind die Stufen nur ein grober Anhalt für die Fähigkeiten des Trägers.

Die Kyu-Grade sind Schülergrade und beginnen mit dem weißen Gürtel. Die nächsten Stufen sind gelb, orange, grün und blau. Der 1. Kyu, also 1. Schülergrad trägt einen braunen Gürtel.

Die Dan-Grade, also Meistergrade, tragen einen schwarzen Gurt, ab dem 6. Dan werden rot-weiße Gurte getragen. Sie beginnen mit dem Shodan (1. Dan) und enden beim 10. Dan. Entgegen der landläufigen Meinung bedeutet ein schwarzer Gurt jedoch nicht das perfekte Beherrschen der Kampfkunst. Das Erreichen des ersten Dan (jap. Stufe) wird vielmehr als Befähigung verstanden, nun die eigentliche Kampfkunst, über das Technische hinaus, erlernen zu können.

 

Eine Wurf-Variante Foto: Ferdinand Heinrich

Im Gegensatz zu vielen Kampfsportarten wird im Ju Jitsu ausschließlich im Vollkontakt trainiert, für rund zwei Stunden pro Einheit. Durch das langsame Tempo bleibt die Verletzungsgefahr gering. „Da wir sehr partnerschonend trainieren, passieren Verletzungen eigentlich nur alle paar Jahre. Obwohl alle Techniken dazu geeignet sind, schwere Verletzungen hervorzurufen“, fügt Ruhnau schmunzelnd hinzu.  „Das letzte, was wir hier hatten, war ein gesprengtes Schultereckgelenk. Das Schlimmste waren jedoch zwei gebrochene Kniescheiben nach einem Wurf. Allerdings innerhalb von 25 Jahren Training.“

Nach der kraftlosen eleganten Variante zeigt Ruhnau auch gerne Techniken „wenn‘s mal wieder schneller gehen muss“. Ein gelegentlicher Wechsel des Trainingspartners zeigt nun, dass die Technik bei jedem funktioniert, egal wie groß oder schwer der Partner ist. Da Menschen gleich gebaut sind, schmerzen Sehnen, Gelenke und Muskeln früher oder später immer. Für einen Austausch im größeren Maßstab sorgen Seminare mit Shihan (jap. Großmeister) Ken Culshaw, die mehrfach im Jahr stattfinden. Seit 1995 besteht diese Verbindung zu Welham Martial Arts in England.

In in der Regel braucht es jahrelanges Training, bis man die Bewegungen unter allen Bedingungen, also vor allem unter Stress, beherrscht. Das gilt jedoch für alle Kampfkünste. Je länger man trainiert, desto leichter fällt es zu improvisieren. Trainingspartner Marco bringt es auf den Punkt: „Du wirst in der Realität nie genau diese vorgegebene Kombination machen, aber je nachdem wo du rauskommst, fallen dir wieder zwei, drei Möglichkeiten ein, um weiter zu machen.“ Für Selbstverteidigungskurse, die eine oder zwei Wochen dauern, sieht Peter Ruhnau dennoch eine Daseinsberechtigung. „Grundsätzlich spricht nichts dagegen, solange diese nicht den Anspruch erheben, eine allumfassende Selbstverteidigung zu ermöglichen. Sie sind jedoch geeignet, ein gewisses Selbstvertrauen zu geben und Grundtechniken zu vermitteln.“ Mit Selbstvertrauen und Gelassenheit belohnt auch das Ju Jitsu. Und wer die ersten Prüfungen besteht, bleibt der Kampfkunst in der Regel sein Leben lang treu.

Das Dojo ist mit japanischen Tatami-Matten ausgelegt. Foto: Ferdinand Heinrich

 

Kosten und Mitgliedschaft

Die monatlichen Beiträge hängen stark vom Verband ab und sind kein Richtwert für die Qualität des Trainings. Bei vielen Verbänden sind monatliche Beiträge um 40 € üblich. Viele Vereine bieten die Möglichkeit eines Probetrainings. Zusätzliche Kosten entstehen für Prüfungen und Seminare. Ein Gi ist ab ca. 50 € zu haben.

Im Fall von Welham Martial Arts Germany ist lediglich ein Jahresbeitrag von 10 € zu entrichten, Prüfungen sind mit 15 € vergleichsweise ebenso günstig.

 

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