Zurück im Ring

Benzingeruch hängt in der Luft. Der Motor knistert. Das Klicken der Zapfpistole durchbricht die Stille. Digitale Ziffern zeigen 12,45 Liter an. Mückenschwärme tanzen im Licht der Deckenleuchter.

Paul hängt den Schlauch ein, geht zum Iperself-Automaten und drückt die Ricevuta-Taste. Eine weitere Quittung füllt die Jackentasche. Mit dem zweiten Tritt des Kickstarters zündet der Boxer. Der Grüne Elefant und sein Reiter fahren zurück auf die SP-Uno. Der schwache Schein des 6-Volt-Scheinwerfers durchschneidet das Dunkel zwischen den Laternen nur mäßig. Noch ein paar Kurven bergauf bis zum Il Cantico, der heutigen Unterkunft.

Pompa Tre. Der Verbrauch liegt um die 5 Liter auf 100 Kilometer. Bild: Edgar Heinrich

Seinen vom vierbeinigen Dickhäuter entlehnten Spitznamen verdankt die Zündapp der anfänglich ausschließlich angebotenen Lackierung in Lindgrün, dem robusten Charakter und der Fantasie des Motorradjournalisten Ernst Leverkus. Offiziell hört der Zweizylinder aus Nürnberg lediglich auf das Kürzel KS 601. Die Maschine war eine grundlegende Weiterentwicklung der Vorkriegs-KS 600, die ebenfalls einen 597 Kubik-Zweizylinder mit 28 PS nutzte. Im Werk in der Dieselstraße 10 entstanden bereits 1947 neue Zweiräder mit Einzylindermotoren. Das erste große Motorrad war jedoch die ab 1951 gebaute KS 601. In diesen Tagen gab es neben ihr nur wenige hubraumstarke deutsche Motorräder. Unfreiwilligerweise blieb sie gleichzeitig auch die letzte große Zündapp.

Am nächsten Morgen. Paul stellt die kleine Tasse zurück auf den kalorienreich gedeckten Frühstückstisch. „Ha dormito bene?”, erkundigt sich die Gastgeberin, „Sì, sì”, murmelt Paul im Halbschlaf. Noch eine Tasse Lavazza für den Fahrer, ein kleiner Schluck 15W40 für den Boxer. Es wird langsam zur Routine – auch wenn es Paul zunächst Überwindung gekostet hatte, seinen Onkel anzurufen und sich zu erkundigen, ob diese oder jene Geräusche normal wären und auf was er sonst noch so achten sollte. Denn obwohl Pauls Triumph deutlich hubraumstärker ist, läuft sie äußerst effizient. Geschraubt hat Paul an der Speed Triple noch nicht; er hat zu viel Angst davor, etwas falsch zu machen. Er streicht über den lindgrünen Tank, bevor der Zweiventiler die letzten Langschläfer aus den Träumen reißt. Paul rollt durch das Tor und fährt weiter Richtung Norden. Ein paar Sekunden später sind auch die grau-blauen Rauchschwaden verflogen.

Schnittmodell des Boxermotors, gut erkennbar sind Auslassventil und Kolben Bild: Ferdinand Heinrich

Obwohl Boxermotoren keine deutsche Erfindung waren, gelten sie bis heute in Verbindung mit einem Kardan-Endantrieb als typisch deutsche Bauweise für Motorräder. In Großserie kamen diese Maschinen in München bereits 1923, bei der Zünder-Apparatebau-Gesellschaft in Nürnberg 1932. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber anderen Zweizylindern ist die besondere Laufruhe, der tiefe Schwerpunkt und der leichte Zugang bei Wartungsarbeiten. Auch wenn Zündapp 1957 seine Boxerproduktion zusammen mit der KS601 einstellte, überlebte das Motorenkonzept bis heute.

Wesentliche Neuerungen umfassten, wie bei allen Verbrennungsmotoren, die Einführung des Elektrostarters, die Benzindirekteinspritzung und zuletzt auch die Wasserkühlung. Das seit Jahren meistverkaufte Motorrad in Deutschland, die BMW R 1200 GS, verfügt wie die Masse der BMW-Motorräder über einen Zweizylinder-Boxer und einen Kardanantrieb. Bei annähernd doppeltem Hubraum leistet das Zweirad bis zu 125 PS. Für einen Seitenwagen, mit dem die KS 601 oft ausgeliefert wurde, sind moderne Boxer allerdings nicht mehr ausgelegt. Diese wurden ab Mitte der 50er wie die meisten Zweiräder von den Straßen verdrängt. Boxermotoren treiben jetzt vor allem im VW Käfer voran, den sich mehr und mehr Familien leisten konnten. Erst 1994 erreichte der Zweiradbestand wieder das 1955 gesetzte Rekordhoch von 2,5 Millionen. Heute liegt diese Zahl bei über vier Millionen zugelassenen Krafträdern.

Massive Gabel und zeitgenössischer Tacho. Bild: Edgar Heinrich

Zwei Wochen zuvor. Die Italienreise scheint unter keinem guten Stern zu stehen. Alle Sachen sind gepackt, ein paar Routen einprogrammiert. „Erst sagt Basti ab, weil er seine Radtour zur selben Zeit geplant hat, und jetzt überhitzt meine Triumph ständig. Die Werkstatt findet den Fehler aber nicht”, erzählt Paul, während er in gewohnt abwesender Manier sein CD- und Bücherregal umräumt. Sein Vater klingt auch ein wenig ratlos: „Ich würde dir ja meine GS leihen, die hat aber gerade keinen TÜV. Aber warte, ich könnte auch Bernd fragen. Der hat doch noch die Zündapp.” Zündapp? Paul erinnert sich an seine Mofa-Erfahrungen mit 12 oder 13. „Zündapp? Ich weiß nicht ob…” „Ja, eine alte, der Grüne Elefant!“, schallt es aus dem Hörer, bevor er seinen Satz vollenden kann.

Nach dem Telefonat setzt sich Paul an seinen Rechner, tippt grüner elefant in die Leiste seines Browsers. Der zweite Link führt ihn zu Wikipedia, die mal wieder zum Spenden aufruft. Ungläubig liest er Zeile für Zeile den Artikel. So ein alter Bock soll ihn nach Italien bringen?

Neben der normalen KS 601 bot Zündapp noch eine Version für den US-Markt und eine Sportversion an. Sie kam mit fünf zusätzlichen PS auf eine Leistung von 33 PS. Im Gegensatz zu den zahlreichen sogenannten Brot-und-Butter-Motorrädern der frühen 1950er galt die KS 601 als hochwertige Maschine. Insgesamt wurden rund 5000 Stück gefertigt. Die Verkaufszahlen blieben jedoch von Anfang an hinter den Erwartungen zurück und die Investitionen in den Kleinwagen Janus belasteten Zündapp zusätzlich. Nach der KS 601 baute Zündapp nur noch Motorräder mit Hubräumen bis 250 Kubik. Trotz höherer Qualität und Zuverlässigkeit hatten sie auf dem Markt das Nachsehen gegen die günstigere und stärker motorisierte Konkurrenz aus Fernost.

Es kostete Paul schon ein paar Kilometer, bis er sich an die knöchernen Hebel und die Trommelbremsen gewöhnt hatte. Zwar war das Wuchten auf den Hauptständer für umstehende Autofahrer zunächst ein kleines Spektakel, aber meistens zog ohnehin die Zündapp die Blicke auf sich. So eine hatten wir auch mal, aber in rot”, schwärmte etwa ein älterer Ford Kuga-Fahrer. Seine Frau blieb lieber im warmen Auto sitzen. Am Reschensee legt Paul die letzte Pause des Tages ein.

Das Ortsbild wechselt mehr und mehr von österreichischem Bergdorf zu italienisch charmant, mit beigem Putz und grünen Fensterläden. Anderen Motorradfahrern begegnet Paul immer seltener, je weiter er nach Süden vorstößt. Besonders anerkennende Blicke erntet er von einem überholenden NineT-Fahrer. Die KS 601 sieht eben nicht nur klassisch aus, sie ist es durch und durch. Das aber früher trotzdem nicht alles besser war, soll Paul noch schnell genug merken. Kurz vor Rom – langsam gehen ihm die Urlaubstage aus, weshalb das Il Cantico in Greccio der Umkehrpunkt seiner Reise sein wird.

Eine Pause am Reschensee, kurz nach der Grenze zu Österreich. Bild: Edgar Heinrich

Mitte der 60er Jahre zeigte der amerikanische Motorradmarkt Anzeichen einer wieder anspringenden Konjunktur. Die deutschen Motorradbauer reagierten äußerst unterschiedlich. Kurz nachdem die Übernahme durch Daimler-Benz abgewendet werden konnte, entwickelte BMW neue Konzepte. Mit der R75/5 löste sich BMW 1969 von der bewährten Vollschwingenbauweise. Diese war den englischen und japanischen Konstruktionen vor allem im Sporteinsatz unterlegen und obendrein teurer. Andere deutsche Hersteller scheuten jedoch Investitionen, um nicht pleite zu gehen. Weitere Dämpfer für die heimische Zweiradindustrie waren Neuregelungen der Führerscheinklassen, der Versicherungsklassen sowie die Einführung der Helmpflicht.

Ausstellungsstück im Museum Industriekultur. Bild: Ferdinand Heinrich

Paul hatte gerade die Hälfte der heutigen Kilometer gemacht. Es war frustrierend aber notwendig, denn er wollte sich und dem Elefanten mehr Zeit für die schönen Alpenstraßen lassen. Gegen Mittag hält Paul an einer Tankstelle irgendwo zwischen Parma und dem Gardasee. Der Magen knurrt, aber er möchte weiterfahren. Nur noch ein paar Kilometer”, sagt Paul und weiß selbst nicht, ob er zu sich oder mit dem Motorrad spricht. So oder so ist die 601 anderer Meinung. Der zweite Tritt auf den Kickstarter endet in einem mahlenden, metallisch knirschendem Geräusch. Paul probiert es noch einmal. Vergeblich. Er schiebt die Zündapp ein paar Meter und wählt zitternd die Nummer seines Onkels.

Auch wenn Zündapp letztendlich 1984 in die Insolvenz ging, hat die Marke immer noch viele Liebhaber. Sie organisieren sich in Vereinen, Stammtischen und über das Internet. Auch Ersatzteile werden teilweise noch in Kleinserie hergestellt. Neue Motorräder, die sogar das Zündapp-Logo tragen, haben allerdings nichts mit der ursprünglichen Marke gemein. Sie nutzen Wort- und Bildmarke für eine bessere Vermarktung. Die angebotenen Modelle mit 125er Motoren basieren allerdings auf Motorrädern spanischer oder chinesischer Produktion. Sie können bisher nicht nennenswerte Verkaufszahlen aufweisen und stoßen gerade bei Zündapp-Fans auf große Ablehnung.

Wenigstens eine gute Aussicht. Bild: Edgar Heinrich

Paul schläft unruhig und steigt gerädert aus dem Bett. An der Rezeption wurde ein Express-Paket für ihn abgegeben. Die Zwangspause in Carpenedolo scheint vorbei. Um sicherzugehen, reißt er den Karton noch im Hotelzimmer auf. Die zwei Zahnräder sind zwar gebraucht aber ok. „Ich hatte schon gelesen, dass ein paar Nachbauteile teilweise schlechter als die alten Teile sind”, erklärte Bernd am Telefon. Sein Onkel war sogar verwundert über die Distanz, die er ohne Panne überstanden hatte. Das grüne Motorrad wartet ein paar Straßen weiter in einer kleinen Werkstatt. Ein seltsamer Anblick zwischen Apes, halb zerlegten Vespas und einer neueren Yamaha. Das Englisch des Meisters war in etwa so gut wie Pauls Italienisch und es dauerte eine Zeit, bis der Fehler erklärt war. Die Teile sind aber schnell ersetzt und von Bezahlung will der Mechaniker nichts wissen. Er zeigt Paul stattdessen noch mehr vom Innenleben des Motors. Und Paul versteht auch ohne Fachvokabular, dass er seine bella moto künftig besser pflegen sollte. Er bedankt sich so herzlich, wie es ihm sein dürftiges Vokabular erlaubt. Und denkt an die Triumph-Werkstatt mit ihren Fehlercodes und Kulanzanträgen.

2017 waren in Deutschland noch 13 917 Zündapp-Zweiräder zugelassen. Im Vergleich zu 2016 sind das zusätzliche 471. In diesen durchaus alltagstauglichen Fahrzeugen lebt die Geschichte der einst so großen Nürnberger Firma bis heute weiter.

Die restlichen zwei Tage verbringt Paul von früh bis spät auf der Landstraße. Vor ein paar Wochen hätte er über 28 PS noch gelacht. Jetzt fühlt er sich fest mit der Maschine verbunden, treibt den Boxer von Kurve zu Kurve und Kilometer für Kilometer weiter Richtung Deutschland. Linker Haken, rechter Haken. Zuhause wird die Zündapp von Fliegen und Dreck befreit, bevor Paul sie für ein letztes Mal anwirft. Die Kolben rasen von links nach rechts und umgekehrt und schütteln die Maschine kräftig durch. Seinem Onkel präsentiert Paul einige Bilder von der Reise. „Ich glaube, mit meiner Triumph wäre die Tour nicht so spannend gewesen.” Bernd nickt und wirkt ein wenig nachdenklich. Nach dem Kaffee stehen beide schweigend vor der Zündapp. „Kann ich mir die Maschine eigentlich ab und zu ausleihen?”, fragt Paul. „Ich würde auch das Motoröl und das am Kardan wechseln, wenn das ok ist.” Onkel Bernd seufzt. „Ach weißt du, eigentlich kannst du sie auch behalten. Ich bin mit ihr nie richtig warm geworden.”

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