Thonet Schaukelstuhl

Der alte Meister und der junge Lehrling

Pablo will sich zur Ruhe setzen und trotzdem produktiv bleiben. Franz will die Prüfung bestehen und seine Ausbildung beginnen. Beide wollen in die nächste Lebensphase starten – und stehen dabei vor demselben Hindernis: dem Thonet Schaukelstuhl.

Die Juni-Sonne steht hoch über den geschlungenen Boulevards von Cannes, als Pablo Picasso und Jacqueline Roque die letzten Meter zu ihrem neuen Zuhause zurücklegen. Gemeinsam wollen sie in den ruhigen Hügeln nördlich des Stadtkerns den Lebensabend des großen Künstlers verbringen. Als sie um die letzte Kurve fahren, türmt sich vor ihnen die majestätische Villa La Californie auf: Sandfarbener Naturstein rahmt die geschwungenen Fenster, während sich dunkelvioletter Flieder an die Balkone schmiegt. Es ist ein Traumhaus mit 24 Zimmern und einem Garten, der mehr einem Park gleicht. Von der französischen Riviera zum Fuß des Hügels zieht eine frische Brise empor als sie eintreten. Im Foyer ist es angenehm kühl und dunkel. Die eleganten Art Nouveau Fenster reichen fast bis zum Ansatz der 4 Meter hohen Decken und lassen durch die Vorhänge nur gedämpftes Licht in den Raum. Pablo und Jacqueline lassen ihre Blicke schweifen: Das Erdgeschoss ist leer, perfekt für einen Neuanfang. Doch da bleibt Pablos Blick an etwas in der rechten hinteren Ecke des Raumes hängen. Im Halbdunkel sind nur die Umrisse zu erkennen. Geschwungene Linien greifen ineinander, die Biegungen verjüngen sich nach außen und schließen mit kleinen Haken ab.

Franz fährt mit den Augen über die geschwungenen Einfassungen des Fauteuil Nr. 1. „Womit fange ich nochmal an? Erst biegen, dann dampfen? Oder andersrum?“ Er kann sich nicht erinnern. Ihm schießt das Blut in den Kopf, seine Handflächen sind kalt und nass. Die kunstvoll gebogenen Kurven aus dunkelbraun lackiertem Buchenholz scheinen ihn zu verspotten: „Franz, wie willst du uns formen? Du hast noch nicht einmal ein Modell Nr. 14 zusammengeschraubt.“ Er muss diese Ausbildung bekommen. Das Lehrgeld darf nicht umsonst gezahlt worden sein. Mit dem Krachen der Tür wird Franz aus seinen Gedanken gerissen. Der Prüfer ist da.

Erste Begegnung

Pablo läuft auf das Objekt zu. Erst als er direkt davorsteht, sieht er was es ist: Ein Schaukelstuhl. Der Rahmen besteht aus dunklem Holz. Im Kontrast dazu stehen die hellen Sitz- und Rückenflächen, die aus einzelnen Streben geflochten sind und dazwischen kleine Lichtflecken entstehen lassen.
„Schau dir das an, Jacqueline“, ruft Pablo nach hinten. „Die haben uns ihren Schaukelstuhl hiergelassen.“ Jacqueline legt ihre Koffer ab und kommt durch den Raum zu ihm. Er sieht sie an. Sie ist Ende 20, bewegt sich mühelos und geschmeidig durch das luftige Foyer. In ihrer Gegenwart fühlt sich Pablo wieder jung, gar nicht wie ein 74-Jähriger. „Ich finde ihn schön“, sagt Jacqueline aus dem Bauch heraus. „Du kannst ihn ja auf die Terrasse stellen und von da auf das Meer schauen“, schlägt sie vor und schmunzelt.

Geschwungene Line des Thonet Bughholz

Michael Thonet experimentierte schon in den frühen 1830er Jahren mit dem Biegen von Holz. Heute ist die Firma Thonet weltweit für ihre Bugholzmöbel bekannt. Foto: Klaus Reeder

Pablo sieht zurück auf den Stuhl und fühlt sich schlagartig alt. Er sieht sich wippend auf der Terrasse, rasant alternd. Noch einmal gleitet er mit den Augen die sanften Biegungen des Stuhls entlang und fühlt sich hin- und her gerissen. Einerseits spricht ihn die Linienführung des Möbelstücks an, andererseits fühlt er sich davon in den Ruhestand geschoben. Nachdem er in seiner Künstlerkarriere bereits alles erreicht hat, wird er auf seinem schöpferischen Höhepunkt vor die Frage
gestellt: Was soll er jetzt noch malen? Mit Jacqueline fühlt er sich jugendlich spritzig und bereit für die nächste Etappe seiner malerischen Schöpfung, doch der Schaukelstuhl scheint ihm sein eigentliches Alter vorzuhalten. In diesem Haus will er Dynamik aufbauen, nicht Stillstand kultivieren. „Ich sehe mich noch ein bisschen um“, sagt Jacqueline und küsst ihn auf die Wange. „Du kannst dir noch überlegen, ob du den Stuhl behalten willst.“ Pablo nickt geistesabwesend.

„Franz Bogner?“ Der Prüfer blickt von seinen Notizen auf. Franz nickt. „Sehr gut. Wir fangen direkt an“ fügt der Prüfer hinzu. „Wie du sicherlich weißt, nehmen hier bei Thonet nur die besten Bewerber als Auszubildende auf.“ Franz nickt wieder und versucht dabei entschlossen zu wirken. „In diesem Eignungstest prüfen wir deshalb, wie viel du dir schon über unseren Fertigungsprozess eingeprägt hast.“ Der Prüfer schaut ihm direkt in die Augen, Franz schießt das Blut in den Kopf. „Du solltest dich auf den Schaukelstuhl Fauteuil Nr. 1 vorbereiten. Bist du bereit?“ Franz nickt ein letztes Mal und hofft, dass er das Sprechen nicht verlernt hat.

Die gebogene Linie

Geschwungene Linie der Einfassungen unterhalb der Siitzfläche

Geschwungene Einfassungen verzieren die Seiten des Schaukelstuhls – und machen die einzelnen Modelle voneinander unterscheidbar. Foto: Klaus Reeder

Pablo kann sich nicht von dem Stuhl losreißen. Er betrachtet die einzelnen Bestandteile genau. An einigen Stellen ist der dunkle Lack vom Holz abgesprungen, darunter scheint hellbraunes Holz hervor.
Pablo fährt mit der Hand über die Armlehnen, die an der Rückenlehne ansetzen und in einem Schwung bis an das Ende der Sitzfläche führen. Das Holz fühlt sich unter seinen Händen glatt an und er genießt es, die feine Biegung des Holzes nachzufahren. Sein Blick sinkt auf die Einfassungen unter der Sitzfläche. Wie ein Netz aus Schläuchen fügen sich die Holzstücke in die Seiten des Stuhls ein. Dazwischen halten stabile Querstreben das Stück zusammen. Pablo gefällt die Ästhetik des Stuhls. Eine einfache Linie, die durch ihren Schwung das ganze Bild definiert.

Franz überlegt kurz, dann sprudelt es aus ihm heraus: „Zuerst wird ein einfacher Holzstab aus Buchenholz gedrechselt. Dieses Holz ist durch die kurzen Fasern sehr stabil und kann deshalb gebogen werden, ohne dass es bricht.“ Der Prüfer nickt. „Als nächstes muss das Holz eingedampft werden, damit es später elastisch genug ist“, fügt Franz hinzu. „Bei wie viel Grad und wie lange?“, schießt der Prüfer ihm entgegen. „Sechs Stunden bei 100 Grad“, erwidert Franz. „Danach wird das Holz in die Biegeform gelegt und nach innen gebogen. Unterschiedlich weit, je nachdem welchen Teil des Stuhls man fertigt.“ Mit einem Bleistift kritzelt der Prüfer in seinen Papieren, dann blick er auf. „Und der letzte Schliff?“, fragt der Prüfer. „Wenn das Holz die gewünschte Form hat, wird es in der Form getrocknet. Für zwei Tage. Dann kann es aus der Form gelöst werden, um es abzuschleifen und zu lackieren“, schließt Franz ab. Der Prüfer zieht die Augenbrauen nach oben und schreibt seinen Satz zu Ende: „Gut, das war der erste Teil.“

Ein Gitter aus Strängen

Wiener Geflecht

Wiener Geflecht ist ein stabiles Flechtmuster, das vor allem mit dem Modell Nr. 14 von Thonet verbunden wird. Foto: Klaus Reeder

Vorsichtig streift Pablo mit den Fingern über die Rückenlehne des Schaukelstuhls. Das Geflecht sieht zerbrechlich aus, fühlt sich aber unheimlich stabil an. Er zählt sechs Linien, die in geordnetem Chaos übereinander laufen und ein geometrisches Muster bilden. Auch dieser Teil des Stuhls gefällt Pablo. Die strikte Ordnung der hellen Linien bildet einen Gegensatz zur gebogenen Form des dunklen Rahmens. Dieses Zusammenspiel aus Gegenpolen wirkt auf ihn handwerklich und ästhetisch ausgereift.

Der Prüfer greift in eine Kiste neben sich und holt ein Bündel dünner Streifen heraus. „Das hier sind Peddigrohrstränge aus dem Stamm einer Rattanpalme. Kannst du mir erklären, wo Rattanpalmen wachsen und wie wir aus den Strängen eine Sitzbespannung herstellen können?“, fragt der Prüfer. Franz stutzt. „Die die Rattenpalme wächst im…“, stottert Franz. „Regenwald?“, sagt er vorsichtig. Der Prüfer ist in seine Notizen versunken. „Ja genau, in Indonesien“, bestätigt der Prüfer. Franz fährt fort: „Für die Sitzbestuhlung, also hier das Wiener Geflecht, brauchen wir sechs solcher Stränge. Um die bekannte Form und Stabilität zu bekommen, muss zuerst ein Gitter geflochten werden. Danach werden diagonal laufende Rohrstränge eingeflochten.“ Der Prüfer lächelt zufrieden. „Wir haben es fast geschafft“, sagt er während er die Stränge zurück in die Kiste stopft.

Neue Lieblinge

Als Jacqueline wieder in das Foyer kommt, steht Pablo immer noch vor dem Schaukelstuhl. „Dieses Haus ist wunderschön – und riesig! Ich war gerade oben und glaube eigentlich, dass wir hier unten schon genug Platz haben“, sagt Jacqueline während sie zu Pablo hinüberläuft. „Du schaust dir ja immer noch diesen Stuhl an“, fügt sie verwundert hinzu. „Ich kann mich einfach nicht entscheiden“, sagt Pablo und geht einen Schritt zurück. Jacqueline lächelt. „Pablo, warum machst du es kompliziert? Wenn du wissen willst, ob dir ein Stuhl gefällt, musst du dich hineinsetzen. Es ist kein Stuhl außer man sitzt darin“, sagt sie lachend. Mit einem Satz springt sie zum Stuhl, setzt sich hinein und verschränkt die Beine im Schneidersitz. Auf ihrem Gesicht macht sich ein Grinsen breit. „Pablo, es ist beschlossene Sache. Das ist mein Lieblingsstuhl“, sagt Jacqueline und fängt an zu wippen.

„Zum Abschluss noch meine Lieblingsfragen. Einfach so schnell antworten, wie du kannst“, sagt der Prüfer und schmunzelt. „Wie viele Modell Nr. 14 passen in eine Thonet Transportkiste?“ Franz antwortet blitzschnell: „36“. „Richtig! Holz ist nicht rund, außer man…“ deutet der Prüfer an. „Biegt es“, sagt Franz wie aus der Pistole geschossen. Der Prüfer muss lachen. Franz ist erleichtert. „Glückwunsch! Du hast die Aufnahmeprüfung bestanden und bist damit offiziell Lehrling bei Thonet Wien, Jahrgang 1904“, sagt der Prüfer und klopft Franz auf die Schulter.

Vor Pablos Augen verwandelt sich die Szene in ein Gemälde. Jacqueline wippt in Zeitlupe, ihre Hände auf den gekreuzten Beinen abgelegt. Er nimmt jeden Teil ihrer Erscheinung mit voller Wucht wahr. Ihre rot lackierten Fußnägel blitzen unter ihrer sommerlichen Hose hervor. Die sanften Wellen ihrer Haare, die Konturen ihrer scharfen Augenbrauen und die feinen Biegungen des Stuhls verschmelzen. Das Bild trifft ihn wie eine Ohrfeige und er weiß, was er als nächstes malen muss. „Bleib sitzen, ich bin gleich wieder da“, sagt er zu Jacqueline und sprintet zur Tür. Aus dem Kofferraum greift er seine mitgebrachte Leinwand und die Tasche mit den Pinseln. Er rennt zurück, baut die Staffelei auf und beginnt zu malen. Jacqueline und der Schaukelstuhl werden eins und Pablo fühlt sich so jung wie nie zuvor.

 

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