Kyrgyzstan, Kirgistan oder Kirgisistan?

Jewgenia Rücker, geborene Stasiok, ist 26 Jahre alt und studiert Agrarwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Sie wurde 1991 in Prschewalsk (heute Karakol) am Issyk Kul See in Kirgistan geboren. Das Land liegt zwischen Kasachstan, China, Tadschikistan und Usbekistan.

Als sie acht war, zog Jewgenia mit ihrer Mutter nach Lahnau in Hessen. Im September 2017 nahm sie an einer dreiwöchigen Exkursion nach Kirgistan teil. Auf Instagram hat sie viele Fotos der Reise veröffentlicht.

Eingangstor nach Talas, dem Bezirk in dem Jewgenia aufgewachen ist. Foto: Ladina Donatsch

Wann und warum seid ihr nach Deutschland gezogen?

Das war 1999, im Frühjahr. Vorher waren wir schon öfters zu Besuch in Deutschland, da die beste Freundin meiner Mutter hier gewohnt hat. Über gemeinsame Freunde lernte sie auch meinen Stiefvater kennen. Als sie geheiratet haben, sind wir ausgewandert. Das war allerdings sehr bürokratisch und hat gut vier Monate gedauert. Meine Mutter musste dafür sogar in die Hauptstadt Bischkek.

Konntest du vorher schon Deutsch?

Nein, ich konnte nichts, nicht mal Danke sagen. Meine Mutter konnte ein bisschen, weil sie Deutschkurse gemacht hat.

War die Sprache ein großes Hindernis?

Laut Erzählungen war das gar nicht so das Problem. Ich habe recht schnell Freunde gefunden und auch die Sprache recht schnell gelernt. In dem Alter unterhält man sich ja auch mit Händen und Füßen. Ich kann mich nur an eine schwierige Situation erinnern, im ersten Monat an der neuen Schule. In der Pause wollten zwei Mädchen irgendwas von mir haben, ich hab’s aber nicht verstanden. Sie sind mir die ganze Zeit hinterhergerannt, das war sehr beängstigend und es hat sich auch später nicht herausgestellt, was sie wollten.

Sprichst du neben Russisch auch Kirgisisch?

Kirgisisch wurde erst 1991 Amtssprache, nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. In den Schulen war es aber noch keine Pflichtsprache, da wurde weiter Russisch gelehrt. Ich kann ein paar einzelne Wörter und bis zwanzig zählen, das war es aber auch.

Musstet ihr, wie viele Spätaussiedler auch, eure Namen ändern?

Ich wurde als Jewgenia geboren, wurde aber eigentlich schon immer mit meinem Spitznamen Schenja gerufen. Mein Name musste aber offiziell übersetzt werden und dann wurde daraus Eugenia. Wir haben das aber später wieder umändern lassen, das ging irgendwann.

Habt ihr noch Verbindungen nach Kirgistan?

Wenige, die ganze Verwandtschaft ist sehr verstreut. Wir hatten noch einen Freund, der aber mittlerweile auch nach Kasachstan umgezogen ist.

Warst du nochmal in Kirgistan?

Nur einmal, 2002 oder 2003. Und eben letztens bei der Exkursion, im September 2017.

Informierst du dich über Politik und aktuelles Zeitgeschehen?

Nicht wirklich. Ich habe mich vor der Exkursion allgemein über das Land informiert und bei Google Maps recherchiert, ob ich irgendetwas wieder erkenne. Oder ob ich mich an Sachen erinnere, als wir umgezogen sind. Aber ich lese nicht regelmäßig Nachrichten darüber.

Was sind deiner Meinung nach die größten kulturellen Unterschiede?

Passend zur Weihnachtszeit: Weihnachten wird dort nicht am 24. gefeiert, sondern nach dem alten Kalender am 6. Januar. Dafür wird Silvester und Neujahr viel größer gefeiert. Da bekommt man auch die Geschenke. Es wird dort viel Tee getrunken und Süßes gegessen, sonst ist die Küche sehr fleischlastig. Schule ist deutlich strenger und uniformierter. Und als Kind muss man schon sehr früh mit anpacken. Auch die Sanitäranlagen sind natürlich ganz anders. (lacht)

Und die Menschen?

Das Land ist sehr gastfreundlich. Eine Tante ist morgens immer losgegangen und hat die ganze Nachbarschaft abgeklappert und ein Schwätzchen gehalten. Bei Besuch wird alles stehen und liegen gelassen und alles aufgetischt, was man so hat. Auch wenn man nicht viel hat. Und im Gegensatz zu Deutschland, wo man ja oft irritiert ist wenn man angesprochen wird, wird man in Kirgistan auch als Fremder freundlich begrüßt.

Tiere sind ein wichtiger Teil der Kultur Foto: Katja Nusser

Wohin fühlst du dich zugehörig, oder beschäftigst du dich damit nicht?

Ich mache mir schon Gedanken darüber. Ich fühle mich in den meisten Situationen wie eine Deutsche. Bei der Exkursion wurde ich aber oft als „unser Mädchen, unsere Einheimische“ wahrgenommen. Da habe ich mich dann dort zugehörig und wohl gefühlt.

Spielt deine Herkunft manchmal eine Rolle im Alltag?

Eigentlich nur wegen dem Namen. Sonst gar nicht.

Bist du froh, dass du in Deutschland aufgewachsen bist?

Da bin ich etwas zwiegespalten. Ich habe eigentlich nur sehr schöne Erinnerungen an meine Kindheit. Der erwachsene Teil von mir sagt, dass es gut war wegzugehen, für die Zukunft. Gerade wegen der Arbeit und den ganzen Möglichkeiten. Aber ich vermisse auch vieles. Meine Oma und mein Onkel waren zum Beispiel immer da. Wir hatten auch viele Tiere, zu denen ich großen Bezug hatte. Da rausgezogen zu werden, ohne sich richtig verabschieden zu können und von der Verwandtschaft rausgezogen zu werden, war schon hart. Tief im Herzen wäre ich gerne da geblieben.

Was hälst du von der Debatte über eine deutsche Leitkultur?

Das sagt mir nichts. Aber als wir nach Deutschland gekommen sind, war das automatisch vorgegeben sich anzupassen, wie ein ungeschriebenes Gesetz. Man muss immer brav sein und sich anpassen, um schnell in die Kultur, die Sprache und das Land integriert zu werden.

Was ist für dich typisch deutsch?

Spontan würde mir bürokratisch und steif einfallen. Aber die Leute, die ich bis jetzt kennengelernt habe, sind ziemlich offen, freundlich, einfühlsam, lustig. Was mir auch auffällt ist, dass viele Deutsche immer möglichst weit weg reisen wollen. Durch viele Fotografen, denen ich in den sozialen Medien folge, wird mir in letzter Zeit bewusst, welche schöne Landschaften Deutschland zu bieten hat.

Wie heißt dein Heimatland nun richtig?

Kirgistan, kirgisische Republik oder Kyrgyzstan. Kirgisistan ist komplett falsch, auch wenn es vom Auswärtigen Amt verwendet wird. Das ist ein Übersetzungsfehler.

Wenn du auf eine Weltkarte schaust, wo ist dein instinktiver Mittelpunkt?

Eigentlich Europa. Es gibt ja auch diese Erde-Emojis und da suche ich auch immer die mit Europa raus.

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