Warum wir Lebkuchen lieben

Heiligabend 1928. Mit leuchtenden Augen schleicht sich die sechsjährige Helga ins Weihnachtszimmer. Es duftet nach Zimt und Glühwein. Kleine Kerzen erfüllen den Raum mit Licht. Wie jedes Jahr steht ein Teller voller Plätzchen auf dem Tisch. Aber eine Sache fehlt.

Aufgelöst läuft das Mädchen zu ihrer Mutter Martha. „Warum sind keine Lebkuchen da?“, fragt sie traurig. Martha erstarrt. In dem ganzen Weihnachtsstress hatte sie die Lebkuchen mit Schokoladenüberzug ganz vergessen. So hatte sie ihre Tochter am liebsten. „Da muss so viel Schokolade drauf wie es gibt“, forderte die Kleine immer von ihrer Mutter. Doch jetzt war Helga untröstlich.

Brot- und Feinbäckerei Karl Attmannspacher. Foto: Pia Woitinek

Da kommt Martha die rettende Idee. In ihrer Straße in der Nürnberger Südstadt gibt es eine Bäckerei. Maria Attmanspacher, die Frau des Inhabers, backt laut Martha die besten Lebkuchen der Welt. „Da es noch morgens ist, hat die Bäckerei vielleicht noch offen“, flüstert die Mutter hoffnungsvoll zu ihrer Tochter. Zusammen machen sie sich auf den Weg. Schon von weitem riechen die Beiden die Lebkuchengewürze. Kurz vor der Bäckerei treffen sie auf die Bäckerin. Sie wollte sich gerade auf den Weg nach Hause machen. Martha erklärt ihr den kleinen Notfall. „Na dann kommt noch schnell rein“, sagt sie mit einem herzlichen Lächeln. Sie sperrt die Tür auf und führt ihre Gäste in die Backstube. 

Wie entstehen die Lebkuchen?

„Warum steht da eine Maschine?“, fragt Helga nachdenklich. Maria erklärt dem kleinen Mädchen, dass das eine Teigknetmaschine sei. Die Bäckerin erinnert sich an ihren verstorbenen Freund Carl Postranecky. Er hatte damals unter anderem Maschinen für die Schokoladen- und Zuckerwarenindustrie hergestellt. Erst durch sein großzügiges Angebot konnte sich die Familie Attmannspacher die Teigknetmaschine leisten. „Damit stellen wir unsere Lebkuchen her“, sagt Maria freudestrahlend und streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. In den Kessel kommen alle Zutaten der Lebkuchenliste hinein. Das sind Haselnüsse, Zucker, Marzipan, Orangeat, Zitronat, Honig, Aprikosenmarmelade zur Frischhaltung und Gewürze. Diese werden dann in der Maschine vermischt. Der geformte Rührflügel im Kessel schaufelt die Masse um, indem er die obere Schicht nach unten und die Untere nach oben bringt. „Das nennt man Planetenbewegung“, erklärt die blonde Frau. „Dadurch wird der Teig vollständig durchgeknetet.“

Teigknetmaschine der Firma Carl Postranecky GmbH. Foto: Anna Neubauer

Die Maschine wird mit einem 2 PS Elektromotor betrieben. „Unsere alte Maschine mussten wir noch per Kurbel mit der Hand antreiben“, klärt die Bäckerin auf. „Das war ganz schön anstrengend.“ Durch den Elektromotor kann man mehr Masse schneller bearbeiten. Die ausgeformte Spitze des Kessels sorgt dafür, dass sich die Lebkuchenmasse nach dem Mischen leichter entleeren lässt. Neugierig fragt Martha nach den Gewürze auf der Lebkuchenliste. „Das bleibt mein kleines Geheimnis“, schmunzelt Maria.

Anschließend werden die Lebkuchen mit den Händen geformt. Die kleinen Teigmassen kommen dann auf Oblaten. Diese sorgen dafür, dass die Lebkuchen später nicht am Backblech kleben bleiben. Nachdem der Lebkuchenteig einige Stunden getrocknet ist, kommt er für etwa zehn Minuten in den Ofen. Nach dem Backen kann man die Lebkuchen bestreichen, zum Beispiel mit Zuckerguss oder Schokolade. „Da muss so viel Schokolade drauf wie es gibt“, stellt Helga heraus. Maria und Martha lachen.

Warum schmecken Lebkuchen so gut?

Auf Blechen werden die Lebkuchen gelagert bis der Zuckerguss oder Schokoladenüberzug getrocknet ist. Foto: Anna Neubauer

„Und warum kauft Mama die Lebkuchen immer bei dir?“, will das Kind wissen. „Ich denke, dass ist Geschmackssache“, grinst Maria. „Jede Bäckerei oder Lebküchnerei hat ein eigenes Geheimrezept.“ Dass es so viele verschiedene Lebkuchenrezepte gibt, kommt daher, dass die Lebkuchenherstellung in Nürnberg früher keiner Gewerbeordnung unterlag. Im Unterschied zu vielen anderen Städten waren in Nürnberg nicht die Zünfte, sondern fünf patrizische Rugamtsherren als Kontrollorgan für das Handwerk zuständig. Sie beschlossen, dass die Lebküchnerei zunächst kein „geschworenes“ Handwerk werden sollte. Jeder sollte Lebkuchen herstellen und verkaufen dürfen. Außerdem wurde festgelegt, dass jeder Bürger seine Lebkuchen überall backen lassen darf, wenn er die Zutaten mitbringt und diese für den Hausgebrauch bestimmt sind.

In der Bäckerei Attmanspacher sind alle Lebkuchen Elisenlebkuchen. Diese Art des Lebkuchens wird als der feinste Lebkuchen bezeichnet. Er trägt den Namen einer früh verstorbenen Tochter eines Nürnberger Lebkuchenbäckers aus dem 19. Jahrhundert. Elisenlebkuchen müssen mindestens 25 Prozent Haselnüsse enthalten und maximal zehn Prozent Mehl. „Wir haben aber einen Haselnussanteil von 37 Prozent und einen Mehlanteil von knapp zwei Prozent, zur Stabilisation“, erklärt die Bäckerin. Ihr Mann vergleicht die Lebkuchen immer mit einem Steak. „Das ist eigentlich unser Markenzeichen, dass die Lebkuchen richtig saftig sind“, sagt sie freudig. „Jedoch ist es nicht immer einfach, die Lebkuchen wirklich auf den Punkt zu backen.“ 

Geschichte der Nürnberger Lebkuchen

„Warum gibt es eigentlich in Nürnberg so viele Lebkuchenhersteller?“, hakt Helgas Mutter nach. Die blonde Bäckerin erklärt ihr, dass in den Reichswäldern um die Stadt Nürnberg viele Imker lebten. Sie versorgten die Stadt mit Honig. Das war eine wichtige Voraussetzung zum Backen. Außerdem war Nürnberg der Knotenpunkt der wichtigsten Handelswege. So konnten die Nürnberger Zucker aus Venedig und fremdländische Gewürze liefern lassen und die fertigen Lebkuchen leichter verbreiten. 

Aufgrund dieser Voraussetzungen spezialisierten sich viele Bäcker in Nürnberg auf die Herstellung von Lebkuchen. In der Zeit des 30-jährigen Krieges trennten sich die Lebküchner endgültig von den Bäckern und wurden ein eigenes geschworenes Handwerk. Dadurch traten viele strenge Bestimmungen in Kraft. „Lebküchner durften zum Beispiel nur backen, wenn sie einen eigenen Backofen hatten“, erzählt Maria. „Die Ausbildung wurde lange und schwer.“ Lebküchner durften kein neues Backhaus errichten und die Anzahl der Lehrlinge war beschränkt. Später wurden die Lebküchner sogar ein „gesperrtes Gewerbe“. Das bedeutete, dass nur Nürnberger Bürger in ihrer Heimatstadt Lebkuchen backen durften. Helga hört gebannt zu.

Nach dem 30-jährigen Krieg stieg die Nachfrage nach Lebkuchen immer weiter an. „Jeder wollte sie essen“, sagt Maria. „Viele verschenkten die Lebkuchen auch.“ Bald gab es Konkurrenz an allen Orten. In vielen Städten blieben die Märkte auswärtigen Anbietern verschlossen. So gab es viel Streit mit anderen Städten, zwischen den Nürnberger Lebküchnern selbst sowie zwischen Lebküchnern und Zuckerbäckern. Eine Besserung kam erst durch die Gewerbefreiheit in Bayern im Jahr 1867. „Durch die Industrialisierung können wir jetzt Maschinen zum Lebkuchenbacken verwenden“, erklärt die Bäckerin. „Wir brauchen nicht mehr so viel Kraft in den Armen und die Herstellung ist hygienischer.“ Außerdem kann man mehr Lebkuchen in kürzerer Zeit produzieren.

An der Theke werden Brot, Torten, Pralinen und Lebkuchen ausgestellt und verkauft. Foto: Pia Woitinek

Das ist eine große Erleichterung, denn jeder liebt Lebkuchen. „Mein Sohn Georg nascht sie auch gerne“, sagt Maria. Sie zuckt zusammen und wirft einen Blick auf die schwarze Uhr an ihrem Handgelenk. 12:30 Uhr. „Georg wartet sicher schon auf mich“, stellt sie erschrocken fest. Schnell läuft sie hinter die Theke und holt zwei Packungen Lebkuchen. Liebevoll drückt sie die Päckchen Helga in die Hand: „Frohe Weihnachten.“ Sie begleitet ihre Gäste noch zur Tür hinaus und verschwindet anschließend. Helga läuft freudestrahlend mit ihrer Mutter nach Hause. Jetzt kann das Weihnachtsfest beginnen.

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