Träume aus Dampf

Eine fiktive Geschichte aus dem Jahr 1911, über einen Jungen und seinen Traum von einer echten Miniatur-Dampfmaschine von Bing. Einem Spielwarenhersteller aus Nürnberg.

Ein Beitrag von Nicolas Fleckenstein

„Schau, Michael, die da, die Maschine von Bing, die ist mein größter Wunsch“, deutet Salomon seinem besten Freund an, während beide mit offenem Mund in das kleine Schaufenster des Spielwarenladens in der Nürnberger Wölkernstraße blicken. Michael entgegnet: „Die wirst du nie bekommen, dein Vater ist doch nur ein einfacher Metalllackierer bei Bing und du hast drei Geschwister.“

Die beiden nehmen ihren Mut zusammen und betreten das Geschäft. Gemeinsam gehen sie auf den Händler zu – einen älterer Mann mit krausem Haar und einem sympathischen Lächeln.

Im Detail: Dampfölschmierer und Steuerelemente Foto: Nicolas Fleckenstein

Im Detail: Dampfölschmierer und Steuerelemente Foto: Nicolas Fleckenstein

„Dürfen wir uns die Dampfmaschine aus dem Schaufenster mal ansehen?“, fragt ihn Micheal forsch.

„Na sicher doch, das ist ein liegendes Fabriklokomobil. Die ist ganz neu bei mir im Laden.“, spricht der ältere Herr voller Begeisterung und holt die Maschine aus dem Schaufenster. „Befeuern können wir die hier leider nicht, die kauft mir sonst keiner mehr. Aber ich kann euch ein bisschen was erklären. Für 28 Mark steht sie im Bing Katalog.“ Gespannt nicken Michael und Salomon dem Verkäufer zu. „An und für sich ist das ein ganz einfaches Prinzip. Unten habt ihr einen Ölbrenner, der ist dazu da, das Wasser im Kessel heiß zu bekommen. Wenn Wasser heiß wird, dann blubbert es erst etwas und wird dabei zu Dampf. Und dieser Dampf will sich gerne ausdehnen. Wenn er das aber nicht kann, entsteht Druck. Hier am Kessel seht ihr ein Manometer für den Druck, wenn der ausreicht, bewegt ihr diesen Hebel und der Dampf schiebt den Kolben aus dem Zylinder. Genau, dreht mal an dem Schwungrad, da könnt ihr das schön sehen.“

„Für was ist diese Stange neben dem Zylinder?“, fragt Salomon.

„Die sorgt dafür, dass der Dampf wieder aus dem Zylinder gedrückt wird. Also wenn das Rad weiter läuft und der Kolben zurückgedrückt wird. Da öffnet sich dann kurz ein kleines Loch, und der Dampf kann raus. Anschließend kann neuer Dampf für den nächsten Hub, so nennt man diese Bewegung, einströmen.“ Michael und Salomon sind begeistert.

Das Schwungrad ist über Pleuelstangen mit dem Kolben verbunden. Foto: Nicolas Fleckenstein

Das Schwungrad ist über Pleuelstangen mit dem Kolben verbunden. Der bläuliche Schimmer ist charakteristisch für heiß ausgewalzte Bleche.Foto: Nicolas Fleckenstein

In den folgenden Wochen des Sommers 1911 löchert Salomon seinen Vater immer wieder über die neuesten Entwicklungen aus den Bing Werken.

Eines Abends bei dem Vesper der Familie kommt Salomon wieder zu seinem Lieblingsthema. Genervt entgegnet sein Vater: „Wie soll ich dir das erklären? Ich bemale nur die Bleche und konstruiere Sie nicht!“

„Mich fasziniert, wie aus so einer kleinen Flamme eine Bewegung wird. Ich verstehe nicht, wie damit ganze Eisenbahnen fahren können? Warum funktioniert etwas, das eigentlich gar nicht funktionieren kann?“, fragt Salomon seinen Vater.

„Wie erkläre ich das denn am besten? Du kennst doch unseren Teekessel, oder? Kochendes Wasser wird zu Dampf und dabei entsteht Druck. So viel Druck, dass der Kessel pfeift. Bei der Dampfmaschine ist das ähnlich. Der Druck vom Dampf wird hier aber in einen Zylinder geleitet und der treibt dann, mithilfe eines Kolbens, die Maschine an. Das Wasser wird dadurch langsam weniger und muss von Zeit zu Zeit aufgefüllt werden“

„Das ist ja alles so spannend! Ich wünsche mir nichts mehr, als das große, liegende Fabriklokomobil. Das mit dem bläulich schimmernden Kessel.“

„Das ist auch wirklich eine schöne Maschine. Das sogenannte Blaublech entsteht, weil wir die Verbindung aus Zinn und Messing heiß auswalzen – die wird sonst spröde.“

„Ach Papa, ich habe doch bald meine Bar-Mitzwa, da hätte ich sie so gerne. Diese Maschine ist mein größter Traum.“

„Über ein Geschenk können wir reden, aber du weißt, dass wir uns das nicht leisten können. Dein Bruder wird bald eingeschult und der Suppenhafen ist dir vor kurzen zu Brüche gegangen. All das kostet Geld, das wir nicht haben. 28 Mark kostet die Maschine und ich verdiene nur 20 in der Woche.“

Die Geschwister und die Mutter essen mit ratloser Miene weiter.

„Ach Vati, bitte!“

„Das ist unmöglich, wie soll ich das anstellen?“, raunzt ihn sein Vater genervt an.

„Du könntest zu deinem Chef. Der war doch neulich in der Synagoge, vielleicht hat der ja ein Herz.“

Zeitgenössische Bing-Händlerkataloge (1925 & 1929). Foto: Nicolas Fleckenstein

Zeitgenössische Bing-Händlerkataloge (1925 & 1929). Foto: Nicolas Fleckenstein

Der Vater stopft schweigend sein Tabakspfeifchen und blickt schulterzuckend in Richtung der Mutter. Sie erwidert sein Zucken mit ratlosem Blick.

Es ist schon sehr spät, deshalb geht Salomon mit seinen Geschwistern zum Schlafen in den Nachbarraum. „Gute Nacht, Kinder. Schlaft gut!“, wünscht die Mutter.

„Was hat es denn mit diesem Gerät auf sich?“

„Das ist wie eine richtige Dampfmaschine, wie sie eben auch die Riemen in unserem Fabrikhaus antreibt. Die hat sogar eine richtige Druckanzeige und Hebel, um den Druck zu kontrollieren. Funktioniert wie eine Große.“

„Ist das nicht gefährlich? Bei Dampfmaschinen hantiert man doch mit Feuer und man hört ständig von Unfällen.“

„Man muss aufmerksam sein und verantwortungsvoll damit hantieren, dann passiert nichts. Das ist ja nur eine kleine Flamme, wie bei einer Kerze.“

„Ach Aaron, kann man da nicht doch etwas machen? Der Junge brennt doch förmlich für diese Maschine.“, fragt Salomons Mutter.

Aaron bleibt hart: „Nein, wie soll das denn gehen? Ich bin nur ein einfacher Lackierer. Das schwächste Glied in der Firma. Ich bin froh, wenn ich meinen Job nicht verliere. Das will ich nicht aufs Spiel setzen.“

„Und was ist mit deinem Abteilungsleiter, diesem Herrn Klingenberg?“

Autor Nicolas Fleckenstein beim Recherchieren am liegenden Fabriklokomobil Foto: Janet Petrovic

Autor Nicolas Fleckenstein beim Recherchieren am liegenden Fabriklokomobil Foto: Janet Petrovic

„Das ist ein ziemlicher Geizkragen, der schenkt doch nichts her. Wenn jemand davon erfährt, verliert er auch seine Arbeit.“

Daraufhin gehen einige Tage ins Land. Der Vater denkt während der Arbeit immer wieder an die nahende Bar Mitzwa seines Erstgeborenen:

„Ich weiß nicht, was ich tun soll, denn mit leeren Händen dastehen will ich auch nicht. Es muss irgendwie klappen, weiß doch selber noch wie ich ein kleiner Mann von 13 Jahren war und mir nichts mehr als die Fahrt in den Frankfurter Zoo wünschte. Mein Vater hat mir diesen Wunsch erfüllt, obwohl es damals eine sehr lange Zugfahrt war und sehr teuer. Die klirrend kalte Nacht am Bahnhof war den Anblick eines wahrhaftigen Löwen aber wert. Es war der schönste Tag meines Lebens.“, denkt sich Aaron.

„Du wirst hier nicht fürs Träumen bezahlt, du guckst doch sonst auch keine Löcher in die Luft!“, raunzt ihn Herr Klingenberg an. Aaron schrickt auf und verreißt den Lackpinsel. „Und jetzt auch noch das. Was ist denn heute nur los?“ „Ähhhm entschuldigen Sie, Herr Klingenberg, nichts ist los.“

Herr Klingenberg entgegnet mit strenger Miene: „Mach deine Arbeit gefälligst ordentlich! Du weißt, dass du jetzt die Platte reinigen und wieder von vorne beginnen musst. So kauft das doch niemand. Das darf einfach nicht passieren. Beeile dich, bevor die Farbe trocken wird.“

Herr Klingenberg wird zunehmend nachdenklicher, weil er seine Reaktion für zu streng hält. Er kennt die Familie doch vom Sehen aus der Synagoge. „Ist wirklich alles gut bei Ihnen? Ich spüre doch, dass etwas nicht stimmt?“

„Die Sache ist nur so, ehhem, Sie wollen es doch gar nicht hören. Ich lasse es einfach nie wieder vorkommen.“

„Nein, reden Sie gefälligst mit mir. Hier soll es ehrlich zugehen und wir sind aus demselben Holz. Unser Herr sieht zu.“

„Gut, mir macht mein Sohnemann sorgen. Er hat bald seine Bar Mizwa.“

„Und weiter?“

„Ja, nichts weiter. Er wünscht sich nur etwas, das wir ihm nicht erfüllen können. Finanziell sieht es bei uns auch nicht so gut aus. Vor Kurzem ist erst die Miete gestiegen und bald kommen Schulsachen für den Jüngeren. Ich weiß auch nicht weiter.“

„Jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Was wünscht der Bub sich denn?“

„Ein liegendes Fabriklokomobil. So eines für das ich hier gerade die Armaturen bemale.“

Herr Klingenberg lacht. „Deine Probleme will ich nicht haben, weil da kann nicht mal ich dir helfen. Schenke ihm doch ein Schnitzmesser! Ich muss jetzt auch los, gleich ist Versammlung.“

Gut zu sehen: Die Brennkammer, sowie das Manometer zur Dampfdruckanzeige. Foto: Nicolas Fleckenstein

Gut zu sehen: Die Brennkammer, sowie das Manometer zur Dampfdruckanzeige. Foto: Nicolas Fleckenstein

Der Vater sieht bedrückt drein und arbeitet weiter. Einige Tage später kommt Herr Klingenberg auf ihn zu und meint, er habe sich die Angelegenheit nochmals durch den Kopf gehen lassen: „Es hat uns eine größere Menge von Bing Lokomobilen Makulaturen erreicht – etwa 100 Stück. Die lecken alle an den Manometern für den Wasserdruck und müssen instand gesetzt werden. Beim Zählen ergab sich aber, dass wir zwei Exemplare mehr als auf dem Zettel erhalten haben.“

„Warum erzählen Sie mir das, wollen Sie mich noch unglücklicher machen?“

„Nein nein, ich verstehe dich. Ich war doch auch mal ein junger Bursche mit Träumen. Bei meiner Bar Mitzwa wollte ich eines von diesen klappbaren Schnitzmessern, die hatten damals alle meine Freunde. Dann bekam ich zu allem Überfluss ein Schachbrett, mit selbst geschnitzten Figuren, von meinem Opa. Es war zwar ein schönes Geschenk, aber wirklich freuen konnte ich mich nicht. Sie machen eine gute Arbeit und so soll das Glück auf der Seite deiner Familie sein.“

„Wie meinen Sie das, sie sprechen in Rätseln?“

Psst, verstehst du nicht: „Das Lokomobil gehört dir. Du musst nur das Rohr am Manometer abdichten, dann läuft es wieder wie geschmiert. Lass dich nach Dienstschluss mit dem Gerät nicht sehen, am besten wickele es in deinen Dienstkittel. Der Pförtner weiß Bescheid, da passiert nichts, glaub mir. Ich stelle es dir hier an den Platz, bleib einfach ein wenig länger, sodass die Kollegen dich damit nicht sehen.“

Drei Tage später ist er da. Der Tag der Tage im jungen Leben des Salomons – sein Mündigkeitstag. Während der Bar-Mizwa-Zeremonie versucht Salomon den besonderen Augenblick zu genießen. Doch kann er die Dampfmaschine nicht vergessen. „Das wird doch nie was. Ach egal, selbst wenn es nur ein Zoobesuch ist, so wie beim Vati damals…“

Seine Eltern lassen sich nichts anmerken, doch warum steht Herr Klingenberg neben seinen Eltern? „Die stehen doch sonst auch nie zusammen?“, denkt sich Salomon. Nun ist der Augenblick gekommen, er muss einen Teil von Mose vorlesen. „Ähhh, entschuldigen Sie, אמר האב ליד האש…“

Nach der Zeremonie fragt ihn Aaron bei der Kuddusch-Mahlzeit, ob er sich denn vorstellen könne, was er denn nun bekomme. Noch völlig durcheinander sagt Salomon: „Eine Reise in den Zoo, wie bei dir damals?“ Sein Vater grinst: „Nein, du weißt doch, dass wir bald in Nürnberg einen Zoo bekommen. Wenn der fertig ist, gehen wir uns den alle mal ansehen. Bei deinem Geschenk musst du dich noch gedulden, bis wir wieder daheim sind. Aber es lohnt sich!“ Salomon denkt kurz an die Dampfmaschine und zerschlägt den Gedanken sofort wieder. „Dann bin ich mal gespannt, was das wohl sein könnte.“

Daheim angekommen, sieht er ein ominöses Paket auf dem Tisch. Dieses ist umhüllt von der Tischdecke. Er zieht die Decke weg und hebt die darunter liegende Holzkiste hoch. Seine Augen glänzen und er erstrahlt, als er das leuchtende Muster der Bodenplatte erblickt. Er weiß sofort, dass es seine Bing ist. Er kann sein Glück gar nicht fassen und springt seinem Vater um den Hals und drückt ihn ganz fest.

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