Telegramm für dich

„Wer ist da?“, tippt Emil in die Tasten des Blattschreibers. Sein Herz pocht wie verrückt und seine Handflächen schwitzen. „Wen wird diese Nachricht erreichen?“, denkt der junge Postangestellte. Das Summen des Fernschreibers erfüllt den leeren, sonst vollkommen stillen Raum. 

Emil arbeitet seit 1934, also seit zwei Jahren, in dem Postamt im Süden Nürnbergs. Seine Familie braucht seine Unterstützung, deshalb verdient er ein wenig Geld dazu. Er hat immer die Stimme seiner verstorbenen Großmutter im Kopf: „Emil, sei ein guter Junge. Du weißt, dass deine Familie deine Unterstützung braucht!“. Die Tage des 21-jährigen laufen, seitdem er seinen Abschluss gemacht hat, immer gleich ab. Von Montag bis Freitag ackert er von zehn bis sechs Uhr abends im Postamt. Briefe frankieren, Poststempel setzen und abends die Räumlichkeiten aufräumen und von den Spuren des Alltags reinigen. Am Wochenende hat er frei und verbringt diese Zeit meistens mit seinem einzigen Freund Johann von Nebenan.

Langes Klopfen – kurzes Klopfen

Johann ist ein lustiger und aufgeschlossener Zeitgenosse, der schon immer einen Hang zu ungewöhnlichen Freizeitbeschäftigungen hatte. Seit einigen Monaten unterhalten sie sich am liebsten per Morsezeichen – wenn sie nicht gerade auf dem Hof Fußballspielen oder gemeinsam auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen. Die Wand seines Zimmers schließt an die von Emil. Sobald es an der Wand klopft, wird Emil hellhörig. Die beiden jungen Männer haben lange gebraucht, bis sie sich das Morsealphabet einprägen konnten. Die Kombinationen aus kurzen und langen Zeichen und Pausen für einzelne Buchstaben erst zu verinnerlichen, dann umzusetzen und richtig zu verstehen war ein langer Prozess. Sie versuchten es sogar schon einmal mit einer Taschenlampe in der Nacht. Sie leuchteten an das gegenüberliegende Haus in bestimmten Abständen. Das befanden sie allerdings für weniger erfolgreich, da das Licht von Johanns Taschenlampe zu schwach war. Deshalb blieben sie dabei, sich per Klopfzeichen zu unterhalten. Manchmal lagen sie nächtelang in ihren Betten und unterhielten sich morsend.

Bild: Vanessa Neuß

An einem Wochenende im Juni kam Johann ganz aufgeregt zu Emil gerannt und zeigte ihm freudestrahlend die aktuelle Zeitung mit einer großen Anzeige für einen Morseapparat. Die Anzeige besagte: „Kaufen Sie jetzt den Morseapparat! Der Draht läuft heiß und ihre Nachricht landet in Windeseile bei ihrem Gesprächspartner!“ „Genau so einen wünsche ich mir schon so lange, Emil!“, ruft Johann aufgeregt. „Ich werde so lange sparen, bis ich das Geld beisammen habe.“ Schon lange hätten die jungen Männer gerne einen Morseapparat. Der Code wird über eine Leitung elektrisch an den Empfänger übermittelt, wodurch sie sich auch über weitere Entfernungen unterhalten könnten. Emil sieht sich die Anzeige an und denkt an den neuen Fernschreiber im Postamt. „Ah ja, Johann. Ich wollte dir noch von dem neuen Blattschreiber in der Arbeit berichten. Telegrafieren ist plötzlich so einfach! Wenn ich abends das Büro des Direktors putzen muss, dann schaue ich manchmal Frau Schmidt – der Sekretärin – zu, wie sie Telegramme verschickt. Das müsstest du sehen! Die Zeichen werden in der Sekunde übertragen, in der sie eingetippt werden. Du kannst also sowohl deinen Text, als auch die Antwort zeitgleich mitlesen. Manchmal fängt der Blattschreiber Lo15 der Firma C. Lorenz AG – so heißt er nämlich – einfach an, auf die oben befestigte Papierrolle zu schreiben. Er kann also sogar Texte empfangen, wenn er gar nicht aktiv eingeschalten ist. Ich habe Direktor Schwartz einst gefragt, ob ich denn den Fernschreiber auch einmal benutzen darf. Doch leider hat er es mir verboten. Du weißt ja, wie er manchmal ist“. Johann entgegnet schelmisch: „Du musst dich unbedingt einmal reinschleichen und den Blattschreiber ausprobieren! Abends ist der Direktor doch immer schon weg und Frau Schmidt musst du irgendwie ablenken.“ So ist der Plan entstanden, der kurz darauf in die Tat umgesetzt wurde…

Ein Telegramm direkt ins Herz

Detailaufnahme des Blattschreibers. Foto: Ludwig Heidenreiter

Der wandernde Typenkorb bewegt sich an der stillstehenden Papierwalze vorbei. Die Buchstaben erscheinen auf der oben eingehängten Papierrolle. „Wer ist da?“, steht noch immer auf dem Papier. Emil hört, wie das Haupttor des Postamtes ins Schloss fällt. „Frau Schmidt muss wohl nach Hause gegangen sein“, denkt er sich. Gut, dass er sich aus dem Hinterausgang unbemerkt hinausstehlen kann. Jetzt ist er unbeobachtet. Die Aufregung steigt und steigt. Nach einigen Sekunden, die sich anfühlten wie Stunden, erscheinen langsam einzelne Buchstaben. Das Druckwerk des Blattschreibers setzt sich knarrend und summend in Bewegung. Es wird mit örtlicher Energie gesteuert. Emil richtet seine Brille gerade: „Ich heiße Anne Krabig, und wer sind Sie?“. Der junge Mann kann es nicht fassen. „Anne… war das nicht das junge, hübsche Mädchen aus dem Postamt im Norden der Stadt?“, grübelt er. Sie ist ihm schon aufgefallen, als er Anfang des Monats wichtige Papiere des Direktors in das Postamt bringen musste. Ihr blondes Haar reicht knapp bis über die Schultern, ihre vollen Lippen waren zu einer leichten, konzentrierten Schnute verzogen und ihre Augen waren eisblau. Ein Blick auf ihr Namensschild verriet Emil damals ihren Namen. Seine Gedanken waren in den letzten Wochen öfter als nur einmal bei dieser Frau gewesen. Und nun schrieb er tatsächlich ausgerechnet ihr?

Der junge Postangestellte drückt die Tasten des Blattschreibers nieder. Die zu telegrafierenden Buchstaben werden in Stromkreiszeichen umgewandelt, die zeitgleich bei Anne ankommen. Das Start-Stopp-System überträgt die Zeichen anhand von Verbindungsleistungen zwischen „Strom“ und „Keinstrom“. Emils Finger springen über die Tastatur. „Ich bin Emil. Letzten Monat brachte ich Papiere des Direktors. Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst. Meine Haare sind dunkelblond, kurz und lockig, ich bin groß gewachsen und trage eine Brille.“ Die Antwort folgt sofort: „Ja, ich weiß noch wer du bist. Du bist mir gleich aufgefallen. Doch warum schreibst du mir? Versteh mich nicht falsch, ich dachte, es bliebe nur bei diesem einen Aufeinandertreffen und ich freue mich sehr, etwas von dir zu hören. Dennoch bin ich überrascht, dass du an den Blattschreiber des Direktors darfst!“ Emil zögert einige Minuten und überlegt, was er darauf antworten soll. Er entschließt sich dazu ihr die Wahrheit zu sagen und von seiner heimlichen Nutzung zu berichten.  Angespannt fixieren seine Augen den Blattschreiber. „Dein Geheimnis ist bei mir sicher, Emil. Du gehst mir, seitdem ich dich hier sah, nicht mehr aus dem Kopf!“ Ihm fällt ein Stein vom Herzen, aber nicht nur das: „Sie muss auch an mich denken? Ich kann es nicht glauben…“. Von da an verabreden sich Emil und Anne jeden Abend nach Arbeitsende und schreiben stundenlang hin und her. Sie erzählen sich von ihrem Alltag, von ihren Familien, von ihren Wünschen und Träumen, und davon, was sie gemeinsam erleben möchten.

Emil am Blattschreiber. Foto: Ludwig Heidenreiter

Die Wochenenden ziehen sich unendlich lang. Wenn sich Johann und Emil treffen, gibt es nur noch ein Thema: Anne! „Oh Johann, du kannst dir nicht vorstellen, wie toll sie ist. Sie ist schlau, schlagfertig und so unglaublich schön. Ich kann es nicht erwarten, sie wieder zu sehen. Du hältst mich sicherlich für verrückt, aber ich bin verliebt!“ Johann schmunzelt in sich hinein. „Du bist wirklich ein hoffnungsloser Romantiker. Du kommst ja aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Lass dich nur ja nicht erwischen. Du weißt, dass der Schwartz ein Choleriker ist!“ Als hätte es Johann herauf beschworen…

Vorsicht währt am Längsten

Eines kalten Winterabends sitzt Emil wie gewohnt im Büro des Direktors, um seiner Liebsten zu schreiben. „Emil, ich muss dir was beichten: Ich bin seit einem Jahr verlobt. Ich liebe ihn allerdings nicht. Mein Vater hat das arrangiert. Ich will nur mit dir zusammen sein, aber ich weiß nicht wie!“ Emil sitzt wie versteinert da und plötzlich wird die Bürotür aufgerissen. Der Direktor steht in der Tür, mit feuerrotem Kopf und weit aufgerissenen Augen. Der junge Postangestellte spürt sein Herz bis zum Hals pochen und würde am liebsten im Erdboden versinken. Noch bevor er die richtigen Worte finden kann, poltert Schwartz los: „Ich sehe wohl nicht richtig! Was zum Teufel machen SIE denn hier??? Das Postamt ist seit zwei Stunden geschlossen und an dem Blattschreiber haben Sie grundsätzlich nichts zu suchen!“ „Es tut mir sehr leid, Herr Direktor. Meine Neugier war so groß und wissen Sie: Ich… ich habe mich verliebt, aber…“, stammelt Emil. „Sie packen Ihre Sachen und gehen!“, fällt ihm der Direktor wutentbrannt ins Wort. „Ich will nichts mehr hören!“

So zieht der eben Entlassene niedergeschlagen von dannen. Er hat nicht nur seine Arbeit verloren, sondern auch Anne. Die Tage ziehen sich unendlich in die Länge und Emil verlässt kaum noch das Haus. Bis es nach einer Woche an der Haustür klingelt. Widerwillig öffnet er die Tür und er traut seinen Augen kaum. Es ist tatsächlich Anne, die ihn mit schüchternem Blick ansieht. „Ich habe dich vermisst, mein Lieber! Frau Schmidt hat mir die ganze Geschichte erzählt. Ich habe mir furchtbar Sorgen gemacht. Emil, ich habe die Verlobung gelöst. Ich will nur dich. Und noch etwas: Der Direktor vom Postamt Nord hat Arbeit für dich. Wir können endlich zusammen sein!“

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