Als das Aspirin erfunden wurde

Post aus dem Wuppertal nach Amerika: Von der Schwebebahn bis zur Erfindung von Schmerzmitteln berichtet Felix seinem Freund Peter von den technischen Neuerungen um das Jahr 1900.

Elberfeld, 25. Oktober 1900

Mein lieber Peter,

ich freue mich immer sehr, wenn Du mir von Deinem neuen Leben in Amerika berichtest. Fast 20 Jahre ist es her, seit Du Deutschland hinter dir gelassen hast – damals noch verbunden mit einer mehrmonatigen Reise auf dem Segelschiff. Stell‘ Dir vor: Heute mit einem Dampfschiff würde die Reise nach Amerika nur noch zwei Wochen dauern.

Kaiser Wilhelm II. und die Schwebebahn

Die Wuppertaler Schwebebahn. Foto: Pixabay (Gemeinfrei)

Gestern, am 24. Oktober 1900, war der Kaiser Wilhelm II. mit seiner Gemahlin Auguste zu Besuch in unserer Stadt Elberfeld. Die ganze Stadt war aus dem Häuschen, um das Kaiserpaar zu sehen. Es hat eine Probefahrt in der neu gebauten Schwebebahn gemacht und Peter, ich wollte es nicht glauben, bis ich es mit eigenen Augen sah: Die Bahn schwebt wirklich über die Wupper und gleitet durch die Kurven bis nach Vohwinkel. Nächstes Jahr soll sie schon eröffnet werden. Ich kann es kaum erwarten.

Durch die ganze Stadt wurde ein Stahltraggerüst über den Fluß gebaut, bestehend aus schrägen Stahlstützen, die in mehreren Metern Höhe ein Gleis halten. Darin wurden Stromleitungen verlegt, die den Elektromotor des Wagens antreiben. Der wiederum kann die Räder, die sich auf den Schienen drehen, antreiben und so bewegt sich der Wagen. Er wird mit Hilfe von Bremsklötzen bei der Einfahrt in den nächsten Bahnhof wieder abgebremst.

Neue Arbeit durch chemische Forschung

Meine Arbeitsstelle bei den Elberfelder Farbenfabriken des Friedrich Bayer hat sich in den vergangenen Monaten stark verändert. Ich arbeite nicht mehr mit Farben, sondern habe eine neue Arbeit in der chemischen Forschung gefunden. Dort forschen wir an einem Präparat namens Aspirin, das mit Hilfe von Salicylsäure Schmerzen lindern soll. Diese Erfindung könnte wirklich etwas Großes werden, mein Freund.

Im Zuge dieser neuen Arbeitsstelle sind Luise, die Kinder und ich am 1. Mai dieses Jahres in ein kleines Haus im Briller Viertel gezogen, was eigentlich als Villenviertel bekannt ist. Einige Kollegen und Direktoren der Firma leben dort in prachtvollen Villen, aber für uns ist dieses kleine eigene Haus schon etwas ganz Besonderes. Schade, daß Du das nicht sehen kannst. Bei Gelegenheit werde ich Fotografien anfertigen und Dir zukommen lassen. Zur Arbeit kann ich, seit wir umgezogen sind, laufen und fahre daher nicht mehr mit dem Zug. Ich habe mir neulich ein Fahrrad angeschafft, mit dem ich im Sommer zur Arbeit fahren kann. Sollte es regnen, kann ich ab nächstem Jahr sogar drei Stationen mit der Schwebebahn zurücklegen.

Ein örtliches Stromnetz

Die reichen Männer haben Dienstmädchen und Köche, die über eigene Eingänge ins Haus und vom Haupthaus abgeschnittene Zugänge zu Zimmern besitzen. Einige haben ihre Häuser sogar an das örtliche Stromnetz anschließen lassen und können so das Haus elektrisch mit Glühbirnen beleuchten oder besitzen ein elektrisches Bügeleisen. Kannst Du Dir das vorstellen? Unser Haus ist nicht an Strom angeschlossen, denn das ist ungeheuer teuer. Einige der größeren Straßen des Viertels sind heute elektrisch mit Glühbirnen beleuchtet, sodaß die Werbung und Erlasse des Kaisers auf den Litfaßsäulen auch bei Nacht sichtbar sind. Eine Glühbirne besteht aus einem Draht aus Wolfram in einem luftleeren Raum. Der Strom, besser gesagt die Ladungsträger, fließen durch den Draht. Dadurch beginnt der Draht zu glühen und kann einen Raum erleuchten.

Ein Grammophon zum Kurbeln. Foto: Pixabay (Gemeinfrei)

Wir heizen das neue Haus mit dem Kohleofen, den wir auch zum Kochen benutzen. Das Haus ist an die Kanalisation angeschlossen, sodaß wir ein Wasserklosett besitzen. Somit haben wir auch fließendes Wasser im Haus. Dadurch muß meine Frau das Haus zum Wäsche waschen nicht mehr verlassen. Außerdem haben wir jetzt auch ein Grammophon zum Kurbeln mit Schallplatten gekauft, die wir gerne abends, wenn wir noch vor dem Ofen sitzen, zusammen anhören. In den letzten Jahren wurde der Aufbau des Telefonnetzes vorangetrieben, sodaß es möglich ist, nicht nur in Wuppertal, sondern auch bis nach Köln oder Düsseldorf mittels des Telefons zu sprechen.

Der Ausbau der Verkehrsmittel

Seit Du Elberfeld verlassen hast, werden die Eisenbahnnetze immer weiter ausgebaut. Die Strecke nach Düsseldorf ist besonders wichtig, um Textil und Stahl an den Hafen zu bringen. Mit der Eisenbahn holen wir auch Kohle aus dem Ruhrgebiet, welche die Industrie für die Dampfmaschinen und die Haushalte zum Heizen dringend benötigen. Die Eisenbahn transportiert nicht nur Kohle, sondern auch deutschlandweit den Briefverkehr von Poststelle zu Poststelle. Ansonsten kann man sich mit der Eisenbahn und der Straßenbahn, die ähnlich funktionieren wie die Schwebebahn, nur daß die Schienen am Boden verlegt werden, schnell durch Wuppertal und in die umliegenden Orte bewegen. Die Linien nach Barmen, Remscheid oder Benrath werden dafür besonders häufig genutzt.

Die meisten Bürger fahren mit der Straßenbahn durch die Stadt. In Kutschen lassen sich nur noch die Reichen chauffieren. Der Herr Bayer hat sich zuletzt sogar ein Automobil von Carl Benz gekauft. Der Motor des Wagens wird mit Benzin angetrieben, der seine Kraft über die Achse auf die Räder überträgt. So bewegt sich das Auto fort. Ich habe den Chef aus dem Fenster des Labors beobachtet, wie er auf das Gelände fuhr. Wirklich Wahnsinn, dieses Automobil – bis zu 20 Kilometer die Stunde fährt es schnell! Doch was noch unglaublicher als das Automobil oder die Schwebebahn ist, sind die ersten motorbetrieben Luftschiffe vom Grafen von Zeppelin, die im Sommer das erste Mal gefahren sind. Letztes Jahr ist auch das erste Flugzeug um den Eiffelturm geflogen!

Von industriellem Wachstum und Wohnungsmangel

Ein mechanisches Spinnrad. Foto: Pixabay (Gemeinfrei)

Wie ich Dir schon häufiger berichtet habe, ist die Stadt durch die Textilindustrie, also vor allem durch das mechanische Spinnrad und den Webrahmen und dadurch entstehende Fabriken, rasend schnell gewachsen. In diesem Jahr wurden etwa 150.000 Einwohner gezählt und die Zuwanderung ist noch weiter angestiegen. Die Arbeiter in den Fabriken schufften viele Stunden für einen kleinen Lohn. Die Bedingungen in den Fabriken sind schlecht und es passieren viele Unfälle. Auch wenn eine Versicherung besteht, können Verletzungen den finanziellen Ruin bedeuten. Da die Arbeiter nur wenig verdienen, leben sie in Arbeitervierteln zum Beispiel in der Nordstadt oder auf dem Arrenberg.

Familien mit mehreren Kindern hausen in kleinen Wohnungen, meist schlafen viele Personen in einem Zimmer. Die Toilette befindet sich auf halber Treppe des Hauses und wird von mehreren Parteien genutzt. Der Wohnungsmangel hat sich auch in Wuppertal breit gemacht. In der Zeitung aus der Hauptstadt Berlin ist immer wieder zu lesen, daß sich viele Krankheiten in diesen Vierteln verbreiten. Genauso wie bei uns wird mit Kohle geheizt, mit dem Unterschied, daß meist nur ein Raum beheizt werden kann. In den Weberfamilien arbeiten oft auch die Frauen bis spät in die Nacht und verdienen sich mit Spinnen und Weben einen kleinen Lohn dazu, um die Familie zu ernähren.

Wenn Du noch in Deutschland leben würdest, könntest Du mir ein Telegramm schicken, sobald dich dieser Brief erreicht hat. So warte ich und hoffe, daß er bei dir ankommt und nicht auf dem Weg verloren geht.

Ich wünsche Dir nur das Beste!

Dein Felix

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