Über Stock und Stein

Es ist klirrend kalt. Die Luft riecht nach Benzin und Abgasen. Vor mir lässt eine Kolonne aus über 20 Panzern die Erde erbeben. Mit einigem Abstand folgen die Fußsoldaten. Dazwischen fahre ich mit meinen Kameraden durch die zerfurchte Landschaft der heutigen Ukraine.

Plötzlich fallen Schüsse aus einem Waldstück. Jetzt muss alles schnell gehen: Wie in den Truppenübungen einstudiert, fange ich an eine scharfe Linkskurve zu fahren. Der Beiwagen verhindert dabei ein Kippen zur Seite. Nachdem die beiden Schützen von meinem Rücken gesprungen sind, beschleunige ich mit dem Fahrer Richtung Fußsoldaten, um diese vor dem Hinterhalt zu warnen. Das Benzin schießt durch meine Adern. Mein Herz, ein 751 ccm Boxermotor mit zwei Zylindern und 26 PS Spitzenleistung, fängt an immer schneller zuschlagen. Dank der halbkugelförmigen Brennräume steht mir das maximale Drehmoment von 51,5 Nm schon bei 2650 U/min zur Verfügung. Das macht mich zu einem schnellen Sprinter und somit schaffe ich es, ohne Verletzung aus der Schussbahn zu kommen. Nach einiger Zeit verstummen die Geräusche des Gefechts und wir können unseren Weg fortsetzten.

Das Beiwagenrad wird permanent angetrieben. Foto: Tobias Rühl

Weiter geht es über Stock und Stein. Das unwegsame Gelände fordert mir einiges ab und wir bleiben oft im schlammigen Untergrund stecken. Zum Glück haben mich meine Konstrukteure mit einem angetriebenen Beiwagenrad ausgestattet. Dieses bekommt über ein Drehmomentverteiler-Differential und einer durchgängigen Antriebswelle 30 Prozent der Kraft des Hauptgetriebes ab. Über einen Hebel lässt sich dieses Differenzial für Geländefahrten sperren. Somit geht die Antriebskraft bei einem durchdrehenden Rad nicht verloren und ich kann mich mit meinen dicken Reifen aus dem Matsch wühlen. Dabei hilft mir auch der Geländegang, den der Fahrer über eine Handschaltung einlegt. Stundenlang kämpfen wir gegen die widrigen Umstände. An einem Hang gerate ich ins Rutschen und pralle gegen einen spitzen Stein. Dank meines verschweißten Ovalrohrrahmen mit fünf Millimetern Wandstärke aus Metall passiert mir nichts weiter. Der dicke Rahmen macht mich robust, sorgt aber auch für mein hohes Gewicht von 400 Kilogramm und den Beinamen „Schweres Kraftrad“. Ich höre ein leises zischen. Mein Vorderrad hat den Aufprall nicht überlebt und verliert Luft. Nachdem mich meine Kameraden auf ebenes Terrain mit festen Untergrund gezogen haben, macht sich meine Besatzung an die Reparatur. Der Reifenwechsel kann ohne viele Hilfsmittel durchgeführt werden: Einfach den Bügel am Vorderrad vom Kotflügel lösen und nach unten klappen. Nun dient dieser als Wagenheber. Bin ich einmal aufgebockt, wird die Achse herausgedreht und der Radabstandshalter entnommen. Das Rad kann danach einfach zur Seite von der Trommelbremse abgezogen werden. Das schafft auch ein ungeübter Soldat. Die Räder sind alle gleich gefertigt, deshalb kann das auf dem Beiwagen montierte Ersatzrad überall verwendet werden. So dauert es nicht lange und ich kann wieder in der Kolonne mitfahren.

Neukonstruktion für den Kriegseinsatz

Zu dieser Zeit bin ich gerade ein paar Monate alt. In dem Nürnberger Zündappwerk erblickte ich 1943 das Licht der Welt. Ich gehöre zum Typ KS 750 und werde auch als Wehrmachtsgespann bezeichnet, da die Ingenieure mich eigens für den Kriegseinsatz entwickelten. Mein Vorgänger, die KS 600, war ungeeignet für das schwierige Gelände an der Ostfront. Zuerst versuchten die Konstrukteure das Modell an die Forderungen der Wehrmacht anzupassen. Sie merkten aber schnell, dass die Ansprüche damit nicht erfüllt werden konnten. Das Ergebnis war eine komplette Neuentwicklung des Gespanns, was die Bezeichnung für ein Motorrad mit Beiwagen ist.

Oben: Hebel für die vier Vorwärtsgänge. Links: Hebel für Rückwärts-, Straßen- und Geländegang. Rechts: Schalter für Zündung ein/aus. Foto: Tobias Rühl

Da in einer Gefechtssituation jede Sekunde zählt, braucht der Fahrer nun keinen Zündschlüssel mehr, um mich zu starten: Einfach den Wahlschalter an der Handschaltkonsole auf „Fahrt“ stellen, den Benzinhahn aufdrehen und schon weckt mich der Kickstarter aus dem Schlaf. Dieser funktioniert auch ohne Batterie mithilfe eines Zündmagneten, der die Zündkerzen mit Spannung versorgt. Eine Batterie benötige ich nur für das Licht und die Hupe. Eine weitere Besonderheit ist mein Rückwärtsgang und die Schaltung. Die vier Vorwärtsgänge können entweder per Hand oder Fuß eingelegt werden. Der Hebel an der Schaltkonsole wandert beim Schalten mit dem Fuß vor und zurück. Dadurch weiß der Fahrer immer welcher Gang gerade eingelegt ist.

Wir befinden uns mittlerweile ein Stück hinter Kiew. Die Sonne geht langsam unter. Die Kälte senkt sich erbarmungslos auf die Landschaft herab und beißt sich bis in die Knochen. Selbst meine Heizung, welche die warmen Abgase über Schläuche direkt auf die Hände und Füße des Fahrers leitet, ist keine Hilfe mehr. Plötzlich ein lauter Knall. Panik bricht aus, als ein Panzer in meiner Nähe explodiert. Ich warte nur auf ein Zeichen meines Fahrers. Doch kein Zug am Gashebel, kein Klacken im Getriebe, nichts. Ich merke die Kälte auf meinem Rücken und realisiere, dass sich meine drei Kameraden in Sicherheit gebracht und mich zurückgelassen haben. Dann noch ein lauter Knall, direkt neben mir. Diesmal habe ich kein Glück. Schwer getroffen wird mir schwarz vor Augen.

Zündapp gegen BMW

Parallel zu Zündapp, arbeitete auch BMW an einem Motorrad mit Beiwagenantrieb. Die R75 der Münchner hatte allerdings kein Drehmomentverteiler-Differential und keine Öldruckbremse, was einen erheblichen Nachteil darstellte. Das Heereswaffenamt schlug daher den Nachbau meiner Konstruktion durch BMW vor, was diese aber ablehnten. Erst durch Druck von höherer Stelle glichen die Münchner die wichtigsten Teile an, damit die Mechaniker an der Front nicht für jedes Motorrad separate Ersatzteile mitführen mussten. Die Wanne für den Beiwagen lieferte die Nürnberger Firma Steib. Bis Kriegsende wurden 18 236 dieser Gespanne an die Wehrmacht geliefert. Danach fertigte Zündapp noch drei Jahre lang aus Restbeständen, einige hundert Straßenversionen mit schwarzem Lack und Chromteilen. Für meinen Geschmack ist das etwas zu schick, da ich doch eigentlich ein robustes Arbeitstier fürs Gelände bin, aber ich schweife ab.

Ich erwache in einer Fabrikhalle. Überall um mich herum sind zerstörte Motorräder. Als ich das Zündapplogo an der Stirnseite der Halle entdecke, bin ich kurz beruhigt. Das muss die Nürnberger Instandsetzungsabteilung für verletzte Veteranen sein. Doch die Soldaten hier sehen anders aus wie sonst. Auch ihre Sprache verstehe ich nicht. Was war nur in der Zwischenzeit passiert? Ich bin verunsichert und bemerke erst jetzt: Mein Beiwagen fehlt! Das gleicht einer Amputation, da mich die Ingenieure von Grund auf damit konstruiert haben. Zwar verhindert ein Rückschlagventil, dass Bremsflüssigkeit am Anschluss der Beiwagenhydraulik ausläuft, aber ich fühle mich trotzdem sehr unwohl, da mein Antriebsflansch komplett offen und ungeschützt ist. Doch mir bleibt keine Zeit, um mir weiter darüber Gedanken zu machen. In der Zwischenzeit sind drei Soldaten vor mich getreten. Neben ihnen steht ein Mann mittleren Alters, mit einer dicken Brille und leicht grauen, zerzausten Haaren. „Hallo mein Freund, wie siehst du denn aus?“, sagt er freundlich zu mir. „Du musst verwirrt sein. Der Krieg ist vorbei, du bist in Sicherheit. Ich habe dich gerade von den Amerikanern abgekauft und werde mich um dich kümmern.“

Goldene Zeiten

95 km/h Höchstgeschwindigkeit schafft die Zündapp mit anmontierten Beiwagen. Foto: Tobias Rühl

Wie sich herausstellte, heißt der Mann Albert. Er ist Wachszieher und kommt aus Augsburg. Für seine Arbeit benötigt er ein robustes Transportfahrzeug. Ohne Beiwagen kann ich ihm allerdings nicht helfen. Daher fängt mein neuer Freund an, nach Ersatzteilen Ausschau zu halten. Einen passenden Wagen zu finden, ist im Chaos der Nachkriegszeit nicht einfach. Viele meiner Brüder sind genauso verwundet wie ich oder komplett zerstört. Die Luftangriffe der Alliierten machten die Nürnberger Zündappwerke fast vollständig dem Erdboden gleich, da sie durch die Produktion von Rüstungsgütern strategische Ziele darstellten. Schlussendlich findet er ein passendes Teil bei BMW in München. Mein neuer Beiwagen kommt von der Firma Royal und ist baugleich zu dem Original von Steib.

Die nächsten Jahre waren die schönsten meines Lebens. Wir fuhren oft Touren durch die Berge und Anfang der 1980er Jahre schickte mich Albert sogar zu einem Restaurator, wo ich eine neue Lackierung bekam. Doch ein paar Jahre später begann es meinem Freund aus Augsburg gesundheitlich schlechter zu gehen. Mittlerweile war er Rentner und besuchte mich nur noch wenige Male im Jahr. Eines Sommers öffnet sich wieder die Tür der kleinen Scheune am Stadtrand, in der ich untergebracht wurde. Albert grinst mich an und sagt: „Na mein Freund, wir sind beide ganz schön alt geworden. Wie wäre es, wenn wir noch einmal eine Tour starten?“

Ich freute mich, endlich wieder zusammen unterwegs zu sein. Unsere Tour starten wir in Richtung Rhön. Der erste Tag läuft ohne Probleme. Ich genieße die Aussicht und die warme Sommerluft, die über mein Blechkleid streift. Nachdem ich die Nacht vor einem Landhotel verbracht und Albert sich ausgeschlafen hat, wollen wir früh am morgen wieder aufbrechen. Der alte Mann steigt langsam auf meinen Rücken, stellt den Gangschalter auf „Leerlauf“, den Zündungsschalter auf „Fahrt“ und den Benzinhebel in Richtung „Auf“. Er tritt mehrmals den Kickstarter. Ich erwache langsam aus dem Schlaf und huste dicke Rauchwolken. Das ist ungewöhnlich, da der Restaurator trotz meines hohen Alters meinte, ich sei technisch in einem guten Zustand. Ich spüre den Zug des Gashahns und setzte mich, ohne mir weiter Gedanken zu machen, in Bewegung. Doch heute fühle ich mich schwach, muss immer wieder keuchen und husten. Jede Steigung macht mir zu schaffen. Plötzlich spüre ich einen scharfen Schmerz und mein Motor verstummt. Albert lenkt mich auf den Seitenstreifen und wir bleiben stehen. Schwarze Rauchwolken steigen aus meinem Inneren empor. „Das war es nun endgültig“, denke ich mir, während sich langsam eine Schwarze Wand vor meinem inneren Auge ausbreitet.

Abschied nehmen

Als ich wieder zu Bewusstsein komme, steht außer Albert noch ein weiterer Mann neben mir. „Guten Morgen, wie geht es dir?“, fragt Albert besorgt. „Mein Freund hier, Jochen Zarnkow, hat dich wieder fit gemacht. Dein Motor hat schlappgemacht, das muss wohl an der schwachen Ölpumpe liegen. Aber zum Glück kennt sich Jochen gut mit deiner Technik aus.“ Der große Mann mit ölverschmierten Händen sieht mich nun an und sagt: „Hallo schön dich kennenzulernen. Die Ölpumpe wurde damals einfach zu klein dimensioniert. Die Fördermenge reicht nicht aus und das kann mit der schlechten Kühlung dafür sorgen, dass der Motor nach einiger Zeit kaputtgeht. Die Ingenieure hatten einfach zu viel Zeitdruck bei der Konstruktion. Aber ich habe dich ja wieder fit bekommen!“ Ich sehe Albert an und merke, dass sein Gesicht sehr traurig aussieht. „Mir geht es wieder gut, warum siehst du so traurig aus?“, frage ich ihn verwundert. „Ich habe mich dazu entschieden, dich bei Jochen zu lassen. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, aber du brauchst jemanden, der sich um dich kümmern kann. Ich bin zu alt dafür geworden.“ Diese Entscheidung stimmt mich tief traurig. All die Jahre und Abenteuer zusammen und nun gibt mich mein treuer Freund einfach aus den Händen.

„Das ist aber gemein vom Albert!“, höre ich ein Mädchen rufen. Sie steht mitten in einer Gruppe interessierter Kinder, die sich seit einiger Zeit um mich versammelt haben und gebannt meiner Geschichte lauschen. „Zugegeben: Am Anfang dachte ich mir das gleiche und war wütend. Aber mit der Zeit begriff ich, dass es für uns beide das Beste ist. Meinem Freund ging es gesundheitlich immer schlechter und er wollte einfach, dass ich in guten Händen bin, wenn er nicht mehr auf mich aufpassen kann. Jochen kümmert sich wirklich gut um mich“, erwidere ich der Kleinen. „Aber wieso stehst du dann hier unten im Museum?“, stochert das Mädchen weiter nach. „Ich bin schon alt und von meinem Typ gibt es nur noch wenige Überlebende. Daher habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Menschen wie euch von meinen Abenteuern zu erzählen. Das gefällt mir besser, als in einer Scheune zu verstauben. Deshalb hat Herr Zarnkow mir hier ein Zuhause gegeben, in dem ich meinen Lebensabend sinnvoll verbringen kann“, entgegne ich ihr. Die Kinder ziehen weiter und langsam leert sich die Halle. Ein weiterer Tag im Museum für Industriekultur Nürnberg geht zu Ende. Ich freue mich schon auf den nächsten, mit vielen neuen, technikbegeisterten Besuchern.

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