Alles nur, weil das Öl so teuer ist

Zur Zeit der Ölkrise, Hippies und den noch anhaltenden Auswirkungen des zweiten Weltkriegs, braucht jeder mal eine Auszeit. Um zu verschnaufen, beschließt Serpico, eine kurze Reise zu unternehmen.

Ein Beitrag von Eugen Guenter

Voller Enttäuschung blickt Serpico auf sein Geburtstagsgeschenk. „Bloß nichts anmerken lassen“, denkt er sich, während er krampfhaft versucht zu lächeln. Die knallrote Sportlackierung trübt das wahre Innenleben des Hercules E1 Elektrorollers. Statt vier Räder nur zwei, anstatt ein lautes Brummen des Zylindermotors, nur ein leises Surren. Das hat sich Serpico nicht gewünscht. Er umarmt seine Eltern ein letztes Mal, bevor er in sein Zimmer geht. Der langersehnte Ausflug, den er bereits seit einigen Wochen geplant hat, steht trotzdem noch an – auch wenn es mit den schlappen 1,2 PS des 24 V Bosch Gleichstrommotors wesentlich geruhsamer wird als geplant.

Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der Hercules E1 Elektroroller einem Fahrrad gleicht. Foto: Eugen G.

Damit er auch nichts vergisst, ist er heute Morgen sogar früher aufgestanden. Er wickelt seine spärlichen Vorräte in eine kleine Decke und stopft sie in den auffällig großen Drahtkorb des Rollers. Der 44 AH Akku hat die ganze Nacht geladen, das bestätigt auch die serienmäßige Batterieanzeige, die auf den ersten Blick wie ein übliches Tachometer aussieht. Nun muss er die Blechkiste nur noch die Kellertreppe hochschleppen, bevor es losgehen kann. Für so ein kleines Ding wiegt das Moped jedoch viel. Ganze 37 Kilogramm drückt das Teil samt Elektrobatterie auf die Waage. Das Gewicht spürt Serpico auch in seinem Rücken, als er behutsam das Fahrzeug die ersten Treppenstufen hinter sich hochzieht. Er möchte die bis zum Glanz geschliffenen Schutzbleche aus rostfreiem Stahl und den Lack nicht aus Versehen zerkratzen. Schließlich ist heute autofreier Sonntag und neben Serpico wird kaum einer außer ihm auf der Straße unterwegs sein.

Der Ernst der Lage

Als Konsequenz der Ölkrise 1973 wurde in Westdeutschland eine ungewöhnliche Sparmaßnahme verhängt. Vier autofreie Sonntage pro Jahr sowie ein allgemein geltendes Tempolimit, das Serpico mit seinem elektrobetriebenen Blechkasten unmöglich erreichen kann. Die Maßnahmen gelten sowieso nicht für Fahrräder mit Hilfsantrieben, denn die dampfen nicht. Er schiebt sein Moped auf die offene Straße und schaut sich um – kein einziges Auto weit und breit. In einem Sprung schwingt er sich auf den mit Leder ummantelten Sitz und legt einen Fuß auf das Pedal. Sofort zieht sich die Gabelfeder im Stoßdämpfer unter seinem Gewicht zusammen. Das ist nichts, worüber er sich großartig Sorgen machen muss. Laut Hersteller kann der Roller problemlos bis zu 180 Kilogramm tragen. Seine Mutter winkt ihn noch mal aus dem Fenster zu: „Pass auf dich auf, und vergiss nicht viel zu trinken!“ Er antwortet nicht. Wieso auch. Er hat kein Wort gesprochen, seit er Acht ist. Serpico schaut sich ein letztes Mal um, bevor er sachte den Anschaltknopf drückt. Sofort zieht es ihn in den harten Sitz, als der Roller impulsiv beschleunigt. Jetzt heißt es Vollgas, denn der Hercules E1 verfügt nicht über eine Motorsteuerung.

Helmpflicht

Wer den Akkustand nicht im Auge behält, muss kräftig in die Pedale treten, um das 37 Kilogramm schwere Fahrrad ins Rollen zu bringen. Foto: Eugen G.

Trotz des lahmen Tempos wedelt der Wind seine Frisur durcheinander. „Hätte ich doch lieber den Helm aufgesetzt“, denkt er sich, während er vergeblich versucht, die Geschwindigkeit mit der anspruchslosen Handbremse zu regulieren. Für Fahrer von Krafträdern besteht seit diesem Jahr (1976) eine Helmpflicht ab einer Geschwindigkeit von 20 km/h. Für Sepicos Elektromoped gilt diese neue Regelung allerdings nicht.

Seit seiner Abreise sind schon einige Stunden vergangen. Er ahnte bereits, dass die Fahrt lange dauern würde. Von Nürnberg nach Bamberg sind es rund 60 Kilometer. Die ersten 30 fährt er auf Kosten der Batterie und den Rest tritt er in die Pedale. Hin und wieder entdeckt er vereinzelt Fußgänger, welche die seltene Möglichkeit dazu nutzen, die Autobahn zu Fuß zu erkunden. Mittlerweile dämmert es und die Mittagssonne verabschiedet sich mit einem letzten warmen Lichthauch, bevor die Straße vor ihn vollkommen verdunkelt. Er schaltet die Vorderlampe an, die ebenfalls an derselben Batterie nagt, die das Moped in Bewegung setzt. Der schwache Lichtkegel reicht gerade mal, um die kantigen Umrisse der stockfinsteren Straße zu erhellen.

Umfunktioniert

Plötzlich ertönt eine weibliche Stimme aus dem Nichts: „Hey, warte! Halt an! Bitte!“ Serpico zieht die Trommelbremse reflexhaft an. Er hört, wie der Bremsbelag gegen die rotierende Radtrommel schleift, während das Mofa langsam zum Stehen kommt. „Fesches Moped hast du da. Kannst du mich vielleicht ein Stück mitnehmen?“ Er schwenkt das Lenkrad und erhellt mithilfe der Lampe die Stelle, aus der die Stimme kam. Es ist eine Frau seines Alters. „Ich wollte mal zu Fuß über die Autobahn laufen. Hab mich total mit der Zeit verschätzt. Hast du noch Platz?“ Serpico nickt, ohne lange zu zögern. Was soll er sonst tun? Einfach weiterfahren und sie ignorieren? Er wendet seinen Blick den Korb zu. Das Drahtgitter ist mit acht Schrauben befestigt, die er problemlos mit seinem Taschenmesser öffnet. Ehrlich gesagt mochte er das Teil sowieso nicht. Kaum ist der Korb weg, springt die fremde Frau auf. Er drückt ihr die Decke mit den Vorräten in die Hand und schwingt sich ebenfalls aufs Moped. Das Rad sackt sofort unter ihrem Gewicht zusammen. Er betätigt wieder den Anschaltknopf und die zweirädrige Maschine setzt sich schleppend in Bewegung. Das so ruhige Surren des Elektromotors ist diesmal merklich lauter zu hören. Er spürt, wie die Keilriemen am Hinterrad zerren, um das Mofa in Bewegung zu versetzen.

Wie bei einem gewöhnlichen Fahrrad, setzt ein klassisches Kettengetriebe das Hinterrad in Bewegung. Foto: Eugen G.

„Du sprichst nicht, oder? Das ist okay! Eine Freundin von mir ist auch stumm.“ Serpico erwidert auf ihre Frage nur ein kurzes Nicken. Plötzlich kommt das Rad zum Stehen. Das war es dann wohl, der Akku ist komplett leer. Jetzt muss Serpico in die Pedale treten. Alleine zu fahren ist schon anstrengend genug, aber das Gewicht einer zweiten Person erschwert die Situation noch mal deutlich. Er spürt förmlich, wie die Kraft entlang der Tretkurbel wandert und das Kettenblatt in Rotation versetzt. Das Kettenblatt ist nicht wie üblich vor dem Sitz befestigt, sondern dahinter. Das unausgewogene Design des Elektrorollers belastet mit jedem Tritt seine Oberschenkelmuskeln aufs Neue. Mit der fremden Frau auf dem Rücksitz wird er es heute sicherlich nicht mehr bis zur nächsten Stadt schaffen, bevor er vollkommen erschöpft ist.

Ein neuer Plan

Noch etwa zehn Kilometer Fahrt bis nach Bamberg. Serpico läuft der Schweiß die Stirn runter. Seine Beine zittern, als er aufhört in die Pedale zu treten, um kurz zu verschnaufen. „Es ergibt keinen Sinn weiter zu fahren“, denkt er sich und rollt das Rad mit letzter Kraft an den Straßenrand. Er wirft einen fragenden Blick seiner Beifahrerin zu. Sie ist sichtlich verwirrt von seinem Vorhaben und zuckt nur leicht mit den Schultern, während sie vom Mofa steigt. Ein kleines Stück abseits der Straße rollt Serpico auf einer ebenen Grasfläche seine Decke aus, in der er seine Vorräte verstaut hatte. Sie ist zu klein für zwei Personen, um komfortabel darauf zu schlafen. Für eine Nacht wird es allerdings reichen. Er legt sich auf seine Seite der Decke. Vor Erschöpfung fallen ihn die Augen zu, bevor er auch nur zehn Schafe zählen kann.

Ein lautes Hupen reißt Serpico aus seinem tiefen Schlaf. Die Autobahn. Immerhin ist es bereits Montag und die Menschen müssen wieder zur Arbeit fahren. Während er aufsteht und den Muskelkater in seinen Beinen ausschüttelt, blickt er um sich. Die Frau ist fort. Sein Geburtstagsgeschenk kann er allerdings auch nirgendwo entdecken. „Wie konnte mir das passieren?“, denkt er sich, während er nach Spuren um sich schaut. Fahrräder sind bekanntlich begehrtes Diebesgut. Immerhin hat sein Roller ganze 1160 DM gekostet. Für das Geld hätte er sich auch ein ordentliches Motorrad mit einem Zweitaktmotor leisten können. Tatsächlich kann er das untypische Reifenprofil seines Rollers im Dreck erkennen. Den Spuren zufolge ist sie weiter nach Bamberg gefahren. In einem sicheren Abstand zu den vorbeifahrenden Autos folgt Serpico der Spur.

Preis-Leis­tungs-Ver­hält­nis

Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Fahrrad besitzt das Hercules E1 eine Trommelbremse, um das schwere Gefährt zu stoppen. Foto: Eugen G.

Seine Eltern mussten zwei Monate sparen, um ihm den Roller zu kaufen. Er hätte sich natürlich lieber ein normales Motorrad gewünscht. Aber seitdem die Bundesregierung ständig propagiert, wie wichtig es doch ist, fossile Brennstoffe einzusparen, sind alle deutschen Firmen nur noch damit beschäftigt, alternative Motoren zu bauen. Wäre ein Dieselmotor in seinem Moped verbaut, dann hätte Serpico sicherlich gehört, wie sich die Diebin mit seinem Eigentum davonmacht.

Als Serpico vor sich hinschlendert, ertönt eine schrille Klingel einige Meter vor ihm. Plötzlich wird er aus seinen Gedanken gerissen, als er seinen Elektroroller erspäht. Reflexartig hebt er seine Hand in die Luft und winkt. „Du dachtest doch nicht im Ernst, dass ich dich zurücklasse, oder?“, ruft sie ihm spöttisch zu. „Jemand wie du kann doch nicht mal nach dem Weg fragen, wenn es hart auf hart kommt!“ Serpico kann seinen Augen nicht trauen. Warum ist sie zurückgekehrt? Hat sie ein schlechtes Gewissen bekommen? „Ich dachte, solange du schläfst, hole ich uns was zu essen.“

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